Treibjagd

Kurzkrimi

Seine ganze Flucht war von langer Hand geplant gewesen. Sybille hatte ihm in der Nähe der Haftanstalt alles bereitgelegt. In einem hohlen Baumstumpf etwa einen Kilometer entfernt lagen seine Papiere, Jogginganzug und seine alte Ortieges, 7,65 Browning, ein Kriegssouvenir, das ihm sein Vater vererbt hatte. Sybille selbst wartete mit dem Wagen auf der anderen Seite des Waldes, an einem Autobahnrastplatz. Er musste nur die 5 Kilometer durch den Wald laufen und diese kleine Lichtung wiederfinden. Rechts davon die Böschung hinab, dann war er so gut wie in Freiheit. Selbst wenn er sich ein paarmal verlief, konnte das nicht länger als eine Stunde dauern. Seine Flucht würde aber bis dahin bestimmt unentdeckt bleiben. Erst beim Durchzählen nach dem Hofgang, würden sie feststellen, dass einer fehlte. Bis dahin war er längst auf der Autobahn. Und bis die Gefängnisleitung die entsprechenden Maßnahmen eingeleitet hätte, wäre er schon in Holland. Und bald danach noch weiter. Über Frankreich, Spanien, Portugal nach Marokko. Das war der Plan. Sie würden vielleicht die Flughäfen sperren, aber keiner konnte davon ausgehen, dass er auf dem ganz normalen Landweg das Land verlassen wollte. Das war viel zu riskant. Und gerade deshalb war er sicher, dass sie ihn nicht erwischen würden.

Dort war der hohle Baumstumpf. Marks körperliche Verfassung war ausgesprochen gut. Im Knast hatte er die meiste Zeit mit Kraft- und Konditionstraining verbracht. Trotzdem ein wenig außer Atem zog er die Plastiktüte aus dem Versteck, entledigte sich etwas tiefer im Unterholz seiner Häftlingskleidung, verstaute sie in der Plastiktüte und deponierte die Tüte wieder in dem Hohlraum. Er überprüfte das Magazin der Browning. Voll. Er lud die Pistole durch und stopfte sie in die Seitentasche seines Kapuzenoberteils. Über die Felder hinweg konnte er noch die Gefängnismauern sehen. Aber sie wirkten jetzt kleiner als von innen und in der strahlenden Morgensonne empfand er sie beinahe als harmlos.

Mark wandte sich ab und begann in leichtem Trab den kleinen Waldweg entlang zu laufen. Die Strecke kannte er nur von Bildern, die Sybille ihm als Urlaubsbilder getarnt in den Knast geschickt hatte. Er hoffte, dass er die Stelle wiedererkannte, wo er das erste Mal abbiegen musste. Wenn nicht, gab es nur noch die Möglichkeit, sich nach der Sonne zu richten. Die Autobahn lag von hier aus ziemlich genau im Westen, solange er die Sonne im Rücken hatte, war er also nicht völlig falsch.

Der Weg federte jeden seiner Schritte weich ab, es war wirklich angenehm zu laufen, wenn man einmal davon absah, dass ihm hin und wieder kleinere Zweige im Weg hingen und er einigen morastigen Stellen ausweichen musste. Immer bestand die Gefahr, auf dem morgenfeuchten Laub auszurutschen das rechts und links den Weg säumte. Die kleinen trippelnden Zwischenschritte störten seinen Laufrhythmus und brachten seine sonst so gleichmäßige Atmung durcheinander.

Die Abzweigung fand er natürlich nicht, aber die Sonne stahl sich zwischen den Baumkronen hindurch bis zu ihm hinunter und stand ihm noch immer ziemlich genau im Rücken. Mark hatte das Gefühl, viel zu tief in Wald vorzudringen. Aus dem anfangs eher lockeren Mischwald war inzwischen ein Dickicht mit starkem Nadelholzbestand geworden. Er blieb stehen, um sich zu orientieren.

Das Fehlen seiner eigenen heftigen Tritte ließ die eigentliche Stille des Waldes über ihn hereinbrechen, und nur sein schweres Atmen konnte ihn davon überzeugen, nicht allein zu sein.

Ein leises Knacken ganz in seiner Nähe erschreckte ihn. Er sah hinüber in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Nichts zu sehen. Wahrscheinlich ein Tier. Doch da knackte es schon wieder. Diesmal einige Meter weiter rechts.

Einmal war er beim Spaziergang im Wald mit einer Gruppe Wildschweine zusammengestoßen. Ihm war zwar nichts passiert, aber als die Keiler durch das Unterholz brachen und mit einer Geschwindigkeit, die er diesen fetten Viechern gar nicht zugetraut hatten, wenige Meter an ihm vorbeitobten, hatte vor Schreck einen Moment lang sein Herz ausgesetzt. Dann hatte ihn ein breiter Adrenalinstrom in Bruchteilen einer Sekunde wiederbelebt, um ihn anschließend mit flauem Magen und zittrigen Gliedern wieder der Einsamkeit des Waldes preiszugeben. Später, als er sich beruhigt hatte, war er sicher gewesen, dass die Tiere sich vor ihm, als er plötzlich vor ihrer Sule stand, genauso erschreckt hatten, wie er vor ihnen.

Trotzdem hatte er beschlossen jede weitere Begegnung mit Wildschweinen in echter Freiheit zu vermeiden. Gerade wollte Mark weiterlaufen, als in einiger Ferne ein Hund anfing zu bellen. Der Hund schien weit weg. Aber er wollte möglichst niemandem begegnen, der sich später an ihn erinnern könnte. Ein Grund mehr, sich unverzüglich wieder auf den Weg zu machen.

Er schätzte die Entfernung bis zur Raststätte. Es sollten noch gut zwei Kilometer sein. Den Hund hatte er noch mehrmals bellen gehört. Und er war erstaunlicherweise immer näher gekommen. Das schien Mark nicht ganz logisch, denn er lief ja und der Hundebesitzer, der seinen Hund ausführte, ging doch wohl in gemächlichem Tempo daher. Auch wenn er sich parallel zu Mark bewegte, musste er um einiges langsamer sein.

Einige Zeit später stellte Mark fest, dass der Hund schon wieder ein ganzes Stück näher gekommen zu sein schien. Jetzt hörte er nicht nur den Hund, sondern auch sein Herrchen, der eine Vorliebe dafür haben musste, mit einem Stock gegen die Bäume zu schlagen. Mark blieb erneut stehen und lauschte. Schnell wurde ihm klar, dass es sich nicht nur um einen Hund, sondern mindestens um zwei Hunde handeln musste. Wenn nicht sogar um noch mehr. Aber er fand keine Erklärung für das Stockschlagen, auch die anderen Hundegänger schlugen andauernd mit Stöcken gegen Bäume. Es schien Mark unwahrscheinlich, dass am frühen Morgen ein ganzes Rudel Blindenhunde übte, ihre Herrchen sicher durchs Gehölz zu führen.

Dazu kamen auch noch laute, unverständliche Rufe. Und immer wieder schlugen die Stöcke gegen Bäume. Mark konzentrierte sich nur noch auf sein Gehör. Wenn er sich nicht irrte, waren es inzwischen mindestens sieben bis acht Hunde, die in einer Linie von Osten her, wo die Sonne jetzt schon ein Stück höher stand, auf ihn zu kamen. Was sollte das?

Dann war es ihm auf einmal klar. Natürlich! Sie hatten seinen Ausbruch vorzeitig entdeckt und versuchten seiner Spur mit Bluthunden zu folgen. Marks Hand ging bei dem Gedanken an den Knast automatisch an den Kolben der Ortieges Browning. Auf keinen Fall wollte er dahin zurück. Er war nicht ausgebrochen, um sich der Strafe zu entziehen. Er konnte einfach das Gefängnis nicht aushalten. Nein, sie würden ihn auf gar keinen Fall wieder einfangen. Niemals!

Mark begann kopflos durchs Unterholz zu rennen. Er achtete nur noch grob auf die Richtung und orientierte sich mehr an den Geräuschen, die seine Verfolger verursachten. Und die Verfolger schienen trotz allem immer näher zu kommen. Marks Beine krachten mehrmals in kleine Gruben über denen Äste lagen. Seine Beine schmerzen, sein Gesicht war längst blutig geschlagen von dem herabhängenden Blattwerk. Sein Atem war völlig außer Kontrolle und schon nach einigen hundert Metern begann Mark die Luft wegzubleiben. So war das nicht gedacht. Er hechelte wie ein Tier nach Luft. Querfeldein, das kostete enorm Kraft. Doch die Häscher waren zu dicht hinter ihm und gaben nicht auf.

Vor ihm lag eine kleine Schonung und dahinter erkannte er bereits die Lichtung. Genau! Das musste die Lichtung vor der Raststätte sein. Er hoffte jedenfalls, dass sie es war.

Durch die Schonung ließ es sich etwas leichter laufen. Vorsichtshalber zog er seine Browning. Wenn seine Verfolger in Sichtweite kämen, während er die Lichtung überquerte, hätten sie freies Schussfeld.

Auf den letzten fünf Metern vor der Lichtung strauchelte er, knickte dabei diverse Jungbäume um und krauchte, sich gerade noch fangend, auf allen Vieren auf die Lichtung. Er wollte sich gerade wieder erheben, als auch schon der erste Schuss loskrachte. Etwas traf ihn wie ein Hammerschlag den Amboss in die linke Seite und schleuderte ihn zu Boden. Im nassen Gras liegend betastete er die Stelle. Seine Hand war voller Blut. Sie hatten ohne jede Warnung auf ihn geschossen. Und der Schuss war von der anderen Seite der Lichtung gekommen. Dort mussten sie ihn erwartet haben! Sie hatten ihn einer Treibjagd gleich in Falle gehetzt. Und dann wie ein Tier abgeknallt.

Mit der rechten Hand entsicherte er die Browning, mit der linken stützte er sich hoch. Auf der anderen Seite der Lichtung glaubte er, eine Gestalt zu erkennen. Er zielte grob und zog den Abzug durch. Das Klicken war kaum zu hören. Der Rückstoß blieb aus. Versager. Er kniete sich mit letzter Kraft hin. Die inzwischen taub werdende Linke spannte erneut und die defekte Patrone wurde ausgeworfen. Derweil hatte sich drüben von den Bäumen eine ganze Gruppe Menschen gelöst. Es waren zu viele, er konnte sie nicht alle erledigen. Sie würden ihn kriegen. Er zielte auf den, der ihm am nächsten schien und drückte ab. Wieder nichts. ›Was für ein Schrott‹, dachte Mark. Dann ließ er die Pistole sinken und verlor das Bewusstsein.

Um Marks reglos blutenden Körper herum stand die Gruppe ganz in grün gekleideter Männer. Alle trugen offene Flinten unter dem Arm.

„Ein Jagdunfall. Keine Frage“, sagte einer, der über Mark kniete und seine Wunde untersuchte. „Es kam so schnell aus dem Unterholz. Ich schwöre euch, ich dachte wirklich es sei eine Wildsau. Und dann gegen die Sonne. Wie hätte ich …“

„Kriecht hier auf allen Vieren durchs Gebüsch, das ist ja wohl auch nicht normal“, bestätigte ihm ein anderer.

„Wilhelm, ruf doch mal die Rettung und die Polizei, ja? Und Thorsten, mach dir keine Vorwürfe, das kriegen wir schon hin.“



Treibjagd (60) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 1999. Alle Rechte vorbehalten.