Die Frau des Arztes

„Du mußt damit aufhören, endgültig.“

„Was denn? Ich weiß gar nicht, was du meinst.“

„Hör auf damit“, schrie Dr. Wagner seine Frau an. „Ich komme in Teufels Küche, wenn du dir mit meinem Rezeptblock auf eigene Faust Medikamente besorgst!“

„Hör schon auf, Frank“, winkte Rita ab. „Du würdest es mir doch sowieso verschreiben.“

Da hatte sie schon recht. An manchen Tage dachte Frank, dass es auf der Welt gar nicht genug Diazepam gäbe, um sein Frau endlich mal zur Ruhe kommen zu lassen.

„Aber ich habe doch keine Kontrolle mehr, wieviel du da nimmst …?“

Seine Frau hatte sich während des Gespräches nicht von dem Sofa erhoben und kippte lieber noch ein Glas Rotwein gegen den Stress nach.

„Und wenn jemand merkt, dass das nicht meine Unterschrift auf den Rezepten ist …?

Rita zuckte mit Achseln und nahm einen weitere Schluck Roten. „Sei nicht ewig so ein Spaßverderber!“

Frank hatte es sich längst abgewöhnt die vorgestempelten Rezeptblöcke offen auf seinem Schreibtisch liegen zu lassen. Auch nicht mehr in der abgeschlossenen Schublade. Die fand er nämlich eines Tages aufgebrochen vor. Nein, er hatte nur noch seinen Block in der der Arzttasche, und einen Ersatzblock in seinem Jackett. Und dieser Block war verschwunden. Da waren sicher noch 30 oder mehr Rezepte drauf.

„Du weißt, dass wir heute Abend Besuch bekommen?“ fragte Frank, obwohl er die Antwort bereits wußte.

„Besuch? Ach ja, Behrbaums, nicht wahr?“

„Ja, Dr. Behrbaum. Hast du zum Abendessen etwas besonderes geplant?“

„Natürlich, wo denkst du hin, dein Frauchen hat alles im Griff.“

„Aber nicht wieder Sushi vom Lieferdienst!?“

„Nein, nein. Ich koche schon selbst.“

Rita war eine ausgezeichnete Köchin, aber in den letzten zwei Jahren fehlte ihr jede Lust das auch zu zeigen und Frank waren die Kontakte zu seinen Kollegen wichtig. Es wollte da keinen schlechten Eindruck hinterlassen, zumal sich so etwas auf dem Land wie ein Lauffeuer verbreitete.

„Bist du sicher, dass du alles im Griff hast?“

„Ja, wenn du nach der Sprechstunde nach Hause kommst ist alles vorbereitet. Antonia kommt gleich und hilft mir.“

Frank gab sich mit dieser Antwort notgedrungen zufrieden. Als er und seine Arzttasche das Haus verließen, konnte er hören, wie seine Frau telefoniert.

„Antonia, ich brauch dich. Ich sitze schon wieder in der Scheiße …“


*


Der Tabletten Wahnsinn hatte vor drei Jahren angefangen. Frank war fremd gegangen. Einmal. Spontan. Unbeabsichtigt. Damals war Bauer Fricke gestorben. Die ganze Familie war in tiefer Trauer und gleich nachdem er den Tod festgestellt hatte, kam er nicht umhin einen Schnaps mitzutrinken. Das gehörte sich so. Einen. Na, zwei. Aus Einem wurden Fünf. Dann hörte er auf zu zählen. Er fing damit erst wieder an, als die Schwester der Witwe ihrer Trauer in besonderer Art und Weise auf seinem Schoß Ausdruck verlieh. Letztlich hatte er bis drei gezählt und sammelte erschlagen seine Sachen zwischen den Heurollen ein. Ein Fauxpas.

Aber Rita sah das ganz anders. Sie wurde nicht müde ihn darauf hinzuweisen, dass man das auf keinen Fall wieder ungeschehen machen könnte. Nein, er wäre nun einmal entgegen seines Eheschwures in ein anderes Weib eingedrungen und das sei absolut unverzeihlich.

Es war Frank damals klar gewesen, dass er dafür sühnen musste. Es war ihm aber nicht klar gewesen, dass dieses Sühnen vermutlich niemals wieder aufhören würde.

In der Folge schien er das Glück seiner Frau völlig zerstört zu haben. Jedenfalls arbeitete sie heftig daran. Sie verlangte, dass er ihr etwas zur Beruhigung verschrieb, verschrieb sich selbst eine gehörige Tagesdosis Rotwein dazu und verwahrloste für jeden sichtbar unter dieser psychischen Belastung. Auf dem Etikett einer jeden leeren Weinflasche, die er in diversen Ecken und Schränken fand, stand in roten Lettern: „Schau, was du mir angetan hast!“

Inzwischen war Frank soweit, dass er über eine Trennung nachdachte. Angesprochen hatte er das zwar noch nicht, aber es hing irgendwie im Raum und Rita spürte das. Letztlich nur ein weiterer Grund sich selbst mit Diazepam, Ephidrin und Novalgin zu versorgen. Lange würde sie das wohl nicht durchhalten. Vielleicht reichte es einfach zu warten, bis die Sache ihren natürlichen Verlauf nahm. Aber Frank war Mitte vierzig und hatte nicht mehr die Zeit und schon gar nicht die Lust einem stufenweisen Suizid zuzusehen.


*

Tatsächlich hatte Rita etwas Angemessenes zu Essen auf den Tisch gebracht. Sie hatte sich sogar zurecht gemacht und schien einigermaßen nüchtern, als sie ihren original rheinischen Sauerbraten servierte.

Die Behrbaums waren begeistert. Frank hingegen etwas skeptisch, weil so ein Sauerbraten eigentlich zwei Tage lang eingelegt werden mußte, er aber den Verdacht hatte, daß seine Frau erst vor vier Stunden mit den Vorbereitungen angefangen hatte. Zudem fand er den Sauerbraten eher zu sauer, vielleicht sogar eine Spur bitter.

Allerdings war er zufrieden, dass er diesen Abend wohl ohne die üblichen Peinlichkeiten und Ausfälle seiner Frau, wie er sie in der letzten Zeit gewohnt war, überstehen würde.

„Monika ich bewundere ja eure Ehe, du hast ja so ein Glück mit deinem Mann“, setzte Rita beim Nachtisch an.

Zu früh gefreut, da ging es auch schon wieder los. Die ewige Leier mit dem Neid.

„Wie schaffst du es bloß, dass dein Mann nicht fremd geht. Und dass bei Euch immer alles so harmonisch ist …“

Monika, die ewigen Sticheleien allmählich von Rita gewohnt sein mußte, lutschte den den Löffel mit den Resten der Crème Brûllée ab. Ihr Mann sah betreten in seine Schale, ob dort vielleicht noch etwas heraus zu löffeln war. Was jetzt kam erforderte einiges an Verständnis von seinen Gästen, das wußte Frank. Wenn Rita erstmal angefangen hatte, hörte sie mit dem Zicken so schnell nicht wieder auf.

„Vielleicht liegt es daran, dass ich mich nicht jeden Tag volllaufen lasse und Tabletten wie Pfefferminz einwerfe.“ Schlagartig herrschte Totenstille. Gewöhnlich war es Rita, die austeilte und Monika, die verständnisvoll einsteckte.

„Ach, vielleicht blase ich auch besser, als du“, setzte Monika nach, um Ritas geschockter Sprachlosigkeit erst gar nicht die Möglichkeit zu geben, sich zu erholen.

Frank war entsetzt, fand es aber auch gerechtfertigt und nachvollziehbar. Sie alle hatten die Nase von Ritas Ausrasten voll. Rita war leichenblass und Monika funkelte sie wütend an.

Eine weitere Eskalation galt es jetzt aber schon zu vermeiden. Walter sagte nichts und starrte nur, wie hypnotisiert in sein Dessertschälchen.

„Ich räume dann mal ab“, stellte Frank fest und sammelte die Teller ein. Er hoffte inständig, dass seine Frau nun endlich den Mund hielt und es nur einmal, ein einziges Mal dabei beließ.

Es ging Frank nicht gut, doch er riß sich zusammen säuberte die Teller, um sie in die Spülmaschine zu stellen.

Als er den Mülleimer aufklappte, um die Essensreste zu entsorgen, sah er eine leere Diazepam-Verpackung. Da war noch eine. Und noch eine. Es mußten so um die zehn Packungen sein. Frank wurde schwindelig und ihm blieb die Luft weg.

Er schaute zu dem Esstisch im Nebenzimmer hinüber. In diesem Moment schlug Frau Behrbaum mit Kopf auf der Tischplatte auf. Ihr Mann wollte ihr helfen, doch auch er sackte muskelgeschwächt in sich zusammen. Das Bild wurde unscharf. Rita saß noch völlig aufrecht. Aber sie hatten doch alle dasselbe gegessen. Auch Rita. Ihm wurde klar, daß die Wirkung bei seiner Frau um einiges später einsetzen würde, weil sie sich an das Zeug bereits gewöhnt hatte. Wenn sie all diese Tabletten ins Essen gemischt hatte, war das eine letale Dosis.

Frank versuchte sich aufzurichten, aber seine Muskeln schienen seinen Befehl nicht mehr zu gehorchen. Er fokussierte seine Frau. Diese dusselige Kuh hatte einen erweiterten Suizid begangen. Mithilfe seines Rezeptblockes. Die verdammte … Für einen Moment sah er wieder scharf, mußte sich aber auf dem Mülleimer abstützen. Die blöde Ziege hatte eine weitere Packung geöffnet und warf noch mehr Tabletten nach. Konnte es wohl nicht erwarten ins Gras zu beißen.

Rita lächelte ihn leicht senil an und Frank schüttelte verzweifelt den Kopf. Dann las er den Aufdruck der Packung in ihrer Hand. Flumazenil.

„Das war ein Antagonist für Benzodiazepine!“ schoß es ihm durch den Kopf. Dann wurde es ihm klar.

„Das war kein erweiterter Suizid, das sollte nur so aussehen!“ Wobei die letzten Worte nur noch undeutlich in seinem Hirn nachhalten, bevor er selbst vornüber kippte und mit Kopf und Oberkörper in der Mülltonne landete.

Die Frau des Arztes (137) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2013. Alle Rechte vorbehalten.