Seelenhandel

Die Sonne hatten sie schon lange nicht mehr gesehen. Aber das Halbdunkel war ihr geringstes Problem. Kaum einer von ihnen, der nicht bis auf die Knochen durchnässt war. Ihre Hände schmerzten, während sie mit letzter Kraft an den Tampen zogen. Das kalte Wasser hatte sie so empfindlich gemacht für den Schmerz.

„Wir sind alle verdammt!“ schrie der Smutje gegen das Tosen der Wellen an.

Und er hatte Recht. Wenn schon der Smutje beim Takeln helfen musste, war es wirklich schlecht um sie bestellt.

Die Männer sahen hoch zur Brücke. Dort stand Kapitän Fowler. Eine Hand an der Reling, den Blick steif auf das Auge des Orkans gerichtet. Ganz so, als könne er ihn nur durch seinen Blick in die Knie zwingen.

„Rafft die Vorsegel!“

Das war Wahnsinn. Das wussten alle an Bord. Wenn sie jetzt auch noch die Vorsegel rafften, waren sie dem Sturm endgültig ausgeliefert.

Es war nicht der erste Sturm, den Carlos miterlebte. Auch nicht der erste schwere Orkan und so hoch schienen die Wellen auch gar nicht. Nur, wenn der Rumpf sich über einen Wellenkamm senkte, dann war es schlimm. Ein Holzeimer flog dicht an ihm vorbei über die Reling.

„Rafft die Vorsegel!“ rief der Kapitän seelenruhig. Er stand auf der Brücke, als würden die Brecher einfach an ihm abprallen.

„Hols der Teufel!“ zischte der alte Piet, der schon seit Menschengedenken an Bord zu sein schien. „Er macht einen Seelenhandel!“

Es blieb keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, was der alte Piet da redete. Vermutlich ein äußerst riskantes Segelmanöver. Carlos kriegte das Tau mit beiden Händen zu fassen, wurde aber im gleichen Moment von einem Brecher an die Steuerbord-Reling gedrückt.


„Immer eine Hand für den Mann!“ wies der Quartiermeister ihn zurecht. Der hatte ihn gerade noch am Kragen erwischt, bevor das zurückrollende Schiff ihn wie ein wilder Bronco über Bord schmeißen konnte.

„Danke!“ prustete Carlos und spuckte eine Menge Salzwasser aus.

„Wie lange bist du schon hier?“ fragte der Quartiermeister. Gemeinsam ließen sie dann den Baum des Vorsegels herunter.

„14 Monate!“ schrie Carlos gegen den Sturm an. Damit war er der Jüngste hier an Bord.

„Das ist Pech!“ schrie der Quartiermeister durch das Tosen zurück. Carlos wusste zwar nicht, was der Quartiermeister meinte, vermutete aber, dass er von dem Sturm sprach.

Das Boot wurde erwartungsgemäß noch instabiler. Jetzt konnte man bestenfalls mit der Ruderanlage einigermaßen die Richtung bestimmen, wenn überhaupt. Es trieb wie eine Nussschale in einem Abfluss-Strudel. Folgte willenlos den Bewegungen der Wellen, wurde hin und her geworfen, dass man Mühe hatte sich festzuhalten.

Noch immer stand der Kapitän ungerührt an seiner Position. Ihm schien der Sturm nichts anhaben zu können. Der erste Offizier hatte sich schwankend die kleine Treppe hoch gekämpft, um seine Befehle zu erhalten. Carlos klammerte sich an die Reling. Nun konnte man wohl nur noch beten.

Was der Kapitän dem Ersten gesagt hatte, konnte Carlos nicht hören. Aber als er sich umsah, stellte er fest, dass alle Augen an Bord auf ihn gerichtet zu sein schien. Carlos war verunsichert. Hatte er etwas falsch gemacht?

Der Erste war die Treppen halb wieder hinabgestiegen, dort war er stehen geblieben und schrie den Männern zu: „Wir schenken unserer Braut ein Leben!“

Carols dachte erst, der Sturm hätte den Sinn der Worte irgendwie verdreht oder Teile verschluckt. Er wartete darauf, dass der Befehl wiederholt würde. Vermutlich war es irgendetwas mit Tau und heben gewesen?!
Doch alle anderen an Bord schienen zu wissen, was zu tun war. Was Carlos daran ernsthaft beunruhigte, war die Tatsache, dass sich die anderen Männer alle in seine Richtung bewegten.

Carlos wäre ihn gerne ausgewichen, aber sie robbten von allen Seite auf ihn zu und wenn er die Reling loslassen würde, um fortzulaufen, dann endete er mit Sicherheit beim nächsten Brecher in der offenen See.

Leicht hatten die Männer es nicht, Carlos zu erreichen, viele wurden einfach vom Wellengang wieder zurückgeschleudert, aber dann klammerte sich der erste Matrose an seinen Fuß.

„Was wollt ihr von mir?!“ schrie Carlos, obwohl ihm die Angst die Kehle zuschnürte. Vielleicht hörte ja auch nur er sich schreien.

„Was wollt ihr!?“

Keiner antwortete ihm. Die Männer arbeiteten sich mit düsteren Mienen unermüdlich weiter auf ihn zu. Hände griffen nach ihm. Er strampelte mit den Füßen und wehrte die Hände, so gut es eben ging, ab, aber sie waren überall.

Wenn die anderen wenigstens sagen würden, was das sollte. Aber Carlos fühlte nur, wie immer mehr Hände nach ihm griffen, ihn festhielten und ihm den Hals zudrückten.

Er erkannte die Stimme des Quartiermeisters, irgendwo hinter ihm. „Er muss lebend in die See, denkt dran!“

Die Arme und Hände an seinem Hals lockerten sich, dafür spürte er aber jetzt, wie die Männer anfingen ihn hoch zu heben. Es war gar nicht so einfach, bei diesem Auf und Ab jemanden über die Brüstung zu werfen. Aber das waren alles erfahrende und standfeste Seeleute und es dauerte nicht lange, bis die Männer ihn über ihre Köpfe gehoben hatten.

Carlos schrie und strampelte, aber alles half ihm nichts. Sein Blick ging zum Kapitän.

Der stand regungslos auf der Brücke, den Blick stur nach vorn gerichtete. Anstalten einzugreifen machte er nicht. Carlos war kurz davor aufzugeben. Doch dafür war er nicht gemacht. Er riss sich zusammen und trat so gezielt zu, wie er konnte. Er traf Hände, Arme und Köpfe, aber auf Dauer nutzte es ihm nichts. Bei der nächsten Welle ging er über Bord.

Es würde einen Moment dauern, bevor er im Wasser aufschlagen würde. Zeit für einen letzten Gedanken. Vielleicht an seine Mutter? Eine Rettung gab es für ihn bei diesem Seegang nicht mehr.

Innerlich bereitete Carlos sich auf das Eintauchen in sein nasses Grab vor. Der Aufschlag war aus dieser Höhe viel härter, als er erwartet hätte. Er schlug sich den Kopf auf und diesem Moment rollte das Schiff auch schon wieder nach Backbord zurück und hob ihn wieder aus dem Wasser.

Carlos konnte schwimmen, das würde seinen Tod um einiges hinauszögern. Doch wirklich schwimmen konnte er im Moment nicht. Er war mit seinem Gürtel an einem vorstehenden Nagel des Schiffsrumpfes hängengeblieben und dann auf eine Führungsplanke an der Wasserlinie des Bootsrumpfes aufgeschlagen. Noch war er gar nicht im Wasser! Doch jeden Moment musste das Schiff wieder nach Steuerbord rollen, und dann ...

Mit kältestarren Händen suchte Carlos nach einer Möglichkeit sich festzukrallen. Die Muschelränder waren scharfen und schnitten ihm ins Fleisch. Seine Schmerzensschreie hörte jedoch niemand, weil die See seinen Mund im gleichen Moment gefüllt hatte. Jetzt würde er ertrinken. Das erneut Rollen nach Backbord dauerte viel länger als der Weg nach unten.

Die Hälfte der Zeit, die ihm bis zum nächsten Tauchen verblieb, verschwendete er mit spucken. Doch dann wurde er schnell. Er öffnete die Gürtelschnalle und den Gürtel aus Hose. Dann legte er die Schnalle um den vorstehenden Nagel und wickelte sich gerade noch rechtzeitig den Gürtel um das Handgelenk, bevor das Meer ihn wieder umschloss.

Gut war die Idee wohl nicht, beim nächsten Auftauchen wurde sein Körper hart gegen den Schiffsrumpf geschleudert. Und da er sich eigentlich unterhalb der Wasserlinie befand, machte er mit dem scharfkantigen Aufwuchs des Rumpfes Bekanntschaft. Sein Hemd war nach zwei weiteren Tauchgängen völlig zerfetzt und auch seine Haut hatte dieser Belastung nicht wirklich widerstanden.

Auf lange Sicht könnte er sich hier nicht halten. Früher oder später würde er ins Meer gespült. Er sah hoch und suchte nach einer Möglichkeit, sich wieder an Bord zu begeben. Da war ein kleiner Vorsprung, wenn die See ruhiger wäre, könnte er ihn erreichen.

In diesem Moment sah Carlos schemenhaft einen Menschen an sich vorbei fallen. Das dachte er zumindest. Schon ging es wieder runter, unter Wasser. Carlos hatte sich inzwischen an den Rhythmus einigermaßen gewöhnt. Als er wieder auftauchte und nach unten sah, erkannte er den Smutje!

Carlos sah ihn nur kurz. Sein entsetztes Gesicht, als es ihn unter Wasser zog. Zwei weitere Rollen und vom Smutje war nichts mehr zu sehen.

Untergegangen oder abgetrieben? Carlos hielt weiter Ausschau nach dem Mann, das lenkte ihn von den Schmerzen ab. Es lenkte ihn so sehr ab, dass er gar nicht mitbekam, dass die See sich zu beruhigen begann.

Das hieß aber auch, dass die Phasen, die er unter Wasser war, immer länger wurden und die Phasen über Wasser immer kürzer. Er musste wachsam sein und einen Plan entwickeln. Bei ruhiger See, wäre er hier definitiv unterhalb der Wasserlinie. Das war nicht gut.

Ein erster Sonnenstrahl brach sich durch die dunkelgrauen Wolken am Himmel. Ein Hoffnungsschimmer.

Die Knochen gehorchten widerwillig, aber Carlos arbeitet sich Stück für Stück an den Planken entlang bis vor zum Heck.

Das Schiff war nicht voll beladen und oberhalb der Ruderanlage war ein kleiner Vorsprung, durch den die Ruderpinne fixiert wurde. Daran könnte er sich klammern, wenn er es bis dorthin schaffte.

Hier war er vor Blicken geschützt. Auch vor der Sonne. Er legte sich auf das vorstehende Brett und band sich mit dem Gürtel an einer Klemme der Ruderanlage fest. Dann schlief er völlig erschöpft ein.


*

Dankbar stellte Carlos fest, dass er im Gegensatz zu dem Koch noch am Leben war. Gut war seine Situation allerdings nicht. Er hatte kein Trinkwasser. Und zurück an Bord traute er sich nicht. Auf der anderen Seite wusste er, dass sie in vier Tagen in Bristol einlaufen würden. Dort wäre er gerettet.

Fieberhaft überlegte er, wie er an Trinkwasser käme. Absurd, wo er doch gestern noch im Trinkwasser fast geschwommen war. Er hätte seine Kleidung ausgewrungen, aber die war längst getrocknet.

Herrlicher Sonnenschein, bei spiegelglatter See. So sah es aus. Vielleicht käme er die vier Tage auch ohne Wasser aus.


Aber da bestand keinerlei Hoffnung. Schon am frühen Nachmittag wurde der Durst unerträglich, zumal er gestern jede Menge Salzwasser geschluckt hatte. Seine Haut brannte und seine Lippen waren aufgeplatzt. Wenn er zu lange wartete, dann fehlte ihm später sicherlich die Kraft an Bord zu klettern.

Glücklicherweise war er auf einem Schiff der englischen Flotte. Der entscheidende Punkt war, dass gleich über ihm vier Geschützluken waren, durch die er vielleicht ins Schiffsinnere klettern konnte.

Spät nachts wagte er einen Versuch. Die Geschütze waren auf dem untersten Deck stationiert und die Luken ließen sich leicht öffnen. Die Kammer war unbesetzt. Carlos wollte leise durch die Mannschaftsräume bis zu den Trinkwasservorräten schleichen. Das war Wahnsinn, das wusste er. Hier an Bord schliefen sie nie alle gleichzeitig. Eigentlich hatte er keine Chance.

Sein Blick fiel auf ein Fass neben den Kanonen. Das Wasser war nicht zum Trinken gedacht. Es sollte benutzt werden, wenn sich auf den Boden gefallenes Pulver entzündete. Entsprechend alt schmeckte das Wasser auch. Es schmeckte mehr nach Teer und Gammel als nach Wasser. Aber für Carlos reichte es.

Es reichte einfach zum Überleben. Jede Nacht schlich Carlos hierher und stillte seinen Durst. Den Tag verbrachte er sicherheitshalber auf der Planke über der Ruderanlage. Vier lange Tage.


*

Dann kam endlich Bristol in Sicht. Carlos überlegte, ob er jetzt schon ins Wasser springen sollte, um sich abzusetzen. Aber körperlich war er doch arg mitgenommen und lieber wollte er warten, bis sie angelegt hatten.

Als sie beidrehten um anzulegen, konnte Carlos sehen, dass der Admiral und sein Adjutant am Pier standen. Der Erfolg ihrer 14 monatigen Kaperfahrt hatte sich längst herumgesprochen und der Admiral wollte sich wohl selbst von den französischen Schätzen ein Bild machen, die nun in die Hände der Krone übergegangen waren. Kaum dass die Gangway ausgelegt war, kam der Admiral an Bord.

Das war die Chance für Carlos. Er kletterte wieder in den Geschützraum, der sich ja unmittelbar unter der Kapitänskabine befand. Bald hörte er die Stimmen des Admirals und seines Kapitäns. Nun würde der dafür sorgen, dass der Kapitän für seine Schandtat zur Verantwortung gezogen würde.

Er ging, ohne auf andere Matrosen zu achten, durch das Mannschaftsquartier Achtern, nahm die kleine Seitenstiege hinauf zu den Offiziersquartieren und stand, ohne dass ihn jemand aufgehalten hätte, vor der Tür des Kapitäns.

Im Prinzip waren sowieso alle an Deck und niemand hatte wirklich Notiz von Carlos genommen. Dann klopft er an.

„Wer da?!“ hörte er nach einer kurzen Pause seinen Kapitän rufen.

„Carlos!“

„Was? Wer?“

Carlos öffnete die Tür. Als der Kapitän ihn sah, mit der salzverbrannten Haut, den ausgebleichten, mit Seetang behangenen Haaren, wurde er blass. Er machte taumelnd einen Schritt zurück und man hätte glauben können, dass er einen Geist gesehen hätte. Gerechtigkeit wäre, wenn der Schreck ihn auf der Stelle töten würde.

„Ja! Ich lebe noch!“ schrie Carlos wütend.

„Wer zum Henker ist das?“ mischte sich der Admiral ein.

„Matrose Butterfield!“ stellte Carlos sich vor und grüßte militärisch.

„Was will dieser Mann?“, wollte der Admiral von dem Kapitän wissen.

„Wenn Sie erlauben. Ich wurde während eines Sturmes von der Mannschaft auf diesem Schiff über Bord geworfen!“

„Über Bord geworfen?“ fragte der Admiral ungläubig.

„Sir, es ...“ wollte der Kapitän sich verteidigen, aber Carlos kam ihm zuvor.

„Man hat versucht mich umzubringen, auf Befehl des Kapitäns. Aber ich habe mich 4 Tage am Schiffsrumpf festgehalten und habe überlebt!“

„Ist das wahr? Ist das wirklich wahr, was ich hier höre Kapitän Fowler?“ schrie der Admiral ihn an.

„Es war ein Sturm, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat!“ behauptete Fowler.

„Ein Sturm, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat? Was glauben Sie eigentlich, mit wem Sie hier reden? Ich habe jeden Sturm gesehen, das können Sie mir glauben, aber so was ist bei mir niemals vorgekommen. Niemals!“

„Es war der Kapitän, er hat befohlen, mich über Bord zu werfen!“ erklärte Carlos.

Der Admiral grüßte und wendete sich von Fowler ab: „Sie wissen, was ich jetzt von Ihnen erwarte, Kapitän!“

Carlos bedankte sich beim Admiral und drehte sich erwartungsvoll zum Kapitän um. Vermutlich würde der sich jetzt bei ihm ...

Es fühlte sich an wie ein leichter Schlag in den Magen. Dann wurde sein Bauch fürchterlich steif. Carlos konnte sich gar nicht mehr bewegen. Er bekam auch keine Luft mehr, weil seine Luftröhre sich rasend schnell mit Blut gefüllt hatte. Der Säbel des Kapitäns steckte fast bis zum Griff in seinem Bauch und der Mann zog die Waffe in diesem Moment wieder heraus.

Die Steifheit war wie weggeblasen und Carlos lebloser Körper sackte vor den Füßen des Kapitäns zu Boden.

„Mann Gottes“, schrie der Admiral. „So eine Schlamperei hätte ich wirklich nicht von ihnen erwartet! Fast hätten wir Ihretwegen ein Schiff verloren. Herrgott noch einmal! Wenn man schon einen Seelenhandel machen muss, dann schludert man dabei doch nicht derart herum!“


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