Die Frau des Schlachters

Mit dem Handrücken versuchte Magret die Ärmel ihres blauweiß gestreiften Kittels ein wenig höher zu schieben. Eine durchaus typische Handbewegung für eine Schlachterin. Welches Schweinderl hätten’s denn gern? Das hielt aber nur für kurze Zeit, dann rutschten sie doch wieder herunter.

Magret schwitzte stärker als gewöhnlich, während sie den hundertachtzigsten Kotelettstrang auslöste. Hitzewellen schlugen ihr unter die Haut hoch. Jedes Mal, wenn sie ihre Tage hätte haben sollen, war ihr Kittel mehr von Schweiß als von Blut und kühlem, schmierigen Fett durchtränkt. Noch etwa siebzig Stück, dann war die Frühstückspause fällig.

Magret sah sich im Zerlegeraum um, ihr Mann sollte doch die Bäuche für Schrader wiegen, bevor er frühstückte. Es war jedes Mal das gleiche! Man konnte es ihm fünfmal sagen, aber er machte doch, was er wollte. Jetzt hingen die Bäuche auf den Tannenbäumen an der Rohrbahn und verloren Wasser, während Helmut sich unten den heißen Kaffee einflößte. Magret konnte das ja verstehen, ihr Mann war nicht mehr der allerjüngste, aber das bisschen Wiegen hätte er ja wohl noch erledigen können. Dann hätten sie auch zusammen frühstücken können.

„Hannes! Die Eisbeine kannst du später sägen. Komm, schieb mal eben die Bäuche über die Waage, ich geh runter, gucken, wo mein Mann bleibt. Aber achte auf die Tara-Einstellung und dann ab damit in den 608er für Schrader“, rief Magret dem Gesellen zu.

Als Magret runter in die kleine gekachelte Teeküche kam, war Helmuts Becher noch halbvoll. Sie öffnete die beiden Türen zu den Vorratskellern, schaute in der Umkleidekabine der Gesellen nach, aber Helmut war nirgends zu finden. Dann hörte sie ein heiseres Quieken, aber das konnte unmöglich von einem Schwein kommen. Die waren ja alle schon seit Stunden tot. Es klang auch viel zu menschlich, genauer gesagt, es klang nach Martina, der neuen Verkäuferin, die den Gesellen das Frühstück zubereitete, bevor die sich mit der Auslieferung auf den Weg machten. – Und da war nicht nur Martinas kleines Quieken, da war auch noch dieses leise Zischeln.

Eindeutig Helmuts Stimme! Beide Geräusche kamen vom Toilettenraum. Die Toilette war der eigentliche Grund, warum Magret heute viel früher als gewöhnlich heruntergekommen war. Theoretisch sollten sie ja zwei Toiletten haben. Hatten sie aber nun mal nicht. Doch das war natürlich kein Grund zusammen aufs Klo zu gehen. Magret kehrte schnurstracks wieder zurück zu ihren Koteletts. Es war jetzt kaum zwei Jahre her, dass Magret auf dem Boden des Führerhauses von dem 608er mit dem Helmut ausgelieferte, einen Damenslip entdeckt hatte. Obwohl sie nicht auf den Mund gefallen war, hatte sie ihn nicht einmal zur Rede gestellt. Wahrscheinlich wollte sie es gar nicht wirklich wissen. Aber das hier, – in ihrem eigenen Betrieb, – das ging nun wirklich zu weit. Das machte sie vor den Gesellen und Verkäuferinnen lächerlich. Er sollte sich nicht einbilden, dass er damit durchkam.

Nach langen zehn Minuten kam Helmut endlich wieder herauf. Als er sah, dass die Bäuche schon auf dem Wagen hingen, nahm er sich den Lieferschein vom Block an der Waage und winkte seiner Frau zu. „Ich fahr dann mal los.“

„Einen Moment noch“, rief Magret zurück. „Komm mal kurz her!“ Magret stach das Messer tief in den Fleischberg auf dem Tisch vor ihr, so wütend war sie. Helmut dachte, sie würde etwas sagen, weil er die Bäuche nicht gewogen hatte. Immer musste sie die Chefin raushängenlassen. Aber bitte, wenn es ihr Freude machte.

Helmut stand genau neben dem Abschwarter, als Magret ihn mit einem flinken Griff an der Krawatte hatte. Ein kurzer Ruck und die Krawattenspitze steckte zwischen den scharfkantigen Einzugsrollen des Abschwarters. Ein geübtes Entsichern mit dem Fuß, ein leichter Druck mit dem Handrücken gegen den Schalterbügel und die Rollen setzten sich langsam, aber unaufhaltsam in Bewegung, griffen nach dem Stoff-Fetzen und saugten ihn gnadenlos an. Auf halber Strecke stoppte Magret das Gerät.

„Sag mal, spinnst du!“ schrie Helmut, dem vor Schreck das Blut aus den Wangen gewichen war. Der Geselle sah unschlüssig zu den beiden herüber.

„Das kommt nicht noch einmal vor, dass du dich da unten mit dieser kleinen Schlampe herumtreibst.“ Der Geselle senkte den Blick wieder und kümmerte sich lieber um die Schultern und die Eisbeine, die sich auf seinem Tisch stapelten.

„Dass ich was? Ich hab doch überhaupt nichts …“

Ein leises aber bedrohliches Brummen signalisierte, dass Magret die Rollen wieder in Gang gesetzt hatte.

„Hör auf, … hör auf damit“, rief Helmut und seine Stimme überschlug sich beinahe. Denn die Rollen waren kurz vor dem Krawattenknoten und das Gerät begann ihm die Luft abzuschnüren. Die blanken, scharfen Messer des Abschwarters rotierten nur noch zehn bis fünfzehn Zentimeter vor Helmuts Augen, als Magret den Betriebshebel wieder zurückspringen ließ.

„Nie wieder! Hast mich verstanden? Sonst …“

Der Geselle ließ die Bandsäge anlaufen, um noch ein paar Eisbeine zu zersägen.

„Ja, ja, ja. Um Gottes willen, ja!“ schrie Helmut, der den Bruchteil einer Sekunde die Motorgeräusche der beiden Geräte verwechselt hatte und sein Gesicht schon von jeglichen Falten, aber eben auch von der Haut befreit sah.

„Gut, dann haben wir uns also verstanden!?“ sagte Magret, zog langsam das Messer aus dem Fleisch. Dann holte sie weit aus und durchtrennte mit einer schwungvollen Bewegung den Krawattenknoten, nicht ohne dabei eine haarestiefe, blutige Spur in seinem Hals zu hinterlassen, sozusagen als Zeichen ihres guten Willens.

Helmut, der sich mit aller Kraft gegen den Sog der Maschine gestemmte hatte, taumelte plötzlich befreit zurück und trat auf ein herumliegendes Stück Flomen. Mit einem lauten Aufschrei glitt er aus und landete schmerzhaft auf seinem Steißbein.

Das schelmige Grinsen des Gesellen wurde schnell von Martinas ängstlicher Frage unterbrochen, ob etwas passiert sei, denn der Schmerzensschrei hatte sie veranlasst, oben mal nach dem Rechten zu sehen.

„Alles wieder in Ordnung, Martina“, sagte Magret, mit einem unmissverständlichen, hasserfüllten Funkeln in den Augen.

„Für dich ist es wohl das Beste, du packst deine Sachen und verschwindest.“

„Ich bin entlassen?“

Wenigstens war sie nicht völlig verblödet, – hätte man eigentlich ganz gut gebrauchen können die Kleine.

„Ganz genau! Und tu uns allen bitte einen Gefallen und frag nicht warum.“

Das tat sie auch nicht. Stattdessen wandte sie sich an Helmut. „Ist das wahr, Helmut?“

Die Art, wie sie ihren Mann ansah und ansprach gefiel Magret überhaupt nicht.

„Es ist wohl besser so“, erklärte Helmut noch immer nach Luft schnappend.

„Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?“

„Nu’ ist aber gut!“ fauchte Magret sie an. Der Ton in dem Martina mit ihrem Mann sprach alarmierte sie immer mehr. „Du packst jetzt deine Sachen und gehst. Damit ist die Sache dann vergessen! Keine weiteren Diskussionen.“

Als auch Helmut nur noch mit den Achseln zuckte, drehte sich Martina auf der Stelle um und tobte die Treppe runter. Damit war Magrets Ehre wohl wieder hergestellt. Es war zwar nur ein Geselle zugegen gewesen, aber er würde es den anderen schon erzählen und dabei eher noch übertreiben. Magret wandte sich also zufrieden wieder den restlichen vierzig Kotelettsträngen zu.

Doch damit war das Thema eben nicht durch. Als Magret und Helmut am späten Nachmittag zu Abend aßen, klingelte das Telefon. Helmut hatte den Anruf entgegengenommen und kam mit zerknirschter Mine zurück.

„Du hättest sie wirklich nicht gleich entlassen müssen.“

„Ist das dein Ernst? Wie stellst du dir das vor? Dass ich jeden Tag, während deiner Pausen, die Toilette im Auge behalte?“

„Ich wird‘ noch mal mit ihr sprechen“, erklärte Helmut gewichtig.

„Was gibt es denn da noch zu reden? Die Sache liegt doch wohl klar auf der Hand.“

„Aber es war doch nicht ihre …“

„Kein ›aber‹. Wenn du jetzt durch diese Tür gehst, dann brauchst du nicht wieder zu kommen. Das ist mein Ernst! Hörst du!?“

Aber Helmut ging durch diese Tür und er kam auch in dieser Nacht nicht wieder. Magret war eine konsequente Frau, die absolut das meinte, was sie sagte, und als sie sich klar darüber wurde, in welcher Situation sie sich gerade befand, tröstete sie sich mit einem halben Liter Jonny Walker Black Label und legte sich die restlichen drei Stunden ohnmächtig ins Bett.

Halb drei Morgens war Arbeitsbeginn. Magret hatte verschlafen. Das war aber nicht ganz so schlimm. Claus, der älteste Geselle, hatte ebenfalls einen Schlüssel. Als sie gut fünfzehn Minuten zu spät eintraf, war der Zerlegeraum schon hell erleuchtet und die Gesellen hatten gerade ihren ›Kaffee davor‹ getrunken. Magret grunzte ein genervtes ›Morgen‹ und schloss als erstes den großen Kühlraum auf, in den die 250 halben Schweine zum Zerlegen geschoben werden mussten.

Der Fahrer aus den Niederlanden schlief noch in seinem Führerhaus auf dem Hof. Hannes ging raus, um ihn zu wecken. Claus, der als erster den Kühlraum betrat, um die Rohrbahnen freizumachen, blieb regungslos in der Tür stehen. Die anderen Gesellen folgten seinem Blick. Keiner sprach ein Wort. Dann sahen alle zu Magret herüber, die gerade die neuen Lieferscheine an die Waage geklemmt hatte.

Magret ahnte sofort, dass dies ein hässlicher Tag werden würde. Sie ging an den Gesellen vorbei in den Kühlraum. Helmut hing mit entblößtem Oberkörper und herunter gelassenen Hosen mitten im Raum an einem Euro-Haken. Seine Haut war schleimig weiß bis bläulich und von angeforenem Kondensationswasser überzogen. Vorn in seiner Stirn war ein großes, dunkelrotes Loch. Zu seinen Füßen lag ein Bolzenschußgerät. Magret dreht sich zu den Männern um. Die Geschichte vom Vortag hatte längst die Runde gemacht. Sie konnte in den Minen der Männer eine Mischung aus Verständnis und totaler Ratlosigkeit lesen. Magret sah genau, was sie dachten, – was sie alle denken würden. Claus war der einzige, der etwas sagte: „Ich glaube nicht, dass er das selbst geschafft hat. Wir sollten die Polizei rufen.“

Dieses kleine Luder war es. Die wusste auch, dass Magret unschuldig war. Aber es gab niemanden, der Magret glauben würde. Nicht mal ein Alibi hatte sie. Keiner war dabei als sie schwerstens angetrunken, im Bett liegend, auf die Heimkehr ihres Mannes wartete. Niemand wusste, dass er sich am Abend noch mit Martina getroffen hatte. Und Martina würde das gewiss weit von sich weisen, denn dazu hatte sie allen Grund.

Langsam ging Magret auf die Leiche ihres Mannes zu. Sie musste nur das Bolzenschußgerät aufheben und wieder laden, dann direkt an die Stirn halten und den Abzug ziehen. Was ein Rind mit einem Schlag tötete, wäre wohl auch eben gerade noch für sie ausreichend.

Doch bevor sie nach dem kleinen Kasten greifen konnte, hatte Claus sie festgehalten.

„Nicht anfassen! Wenn wir Glück haben, sind da irgendwo noch Fingerabdrücke drauf.“

Die Frau des Schlachters (43) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 1997. Alle Rechte vorbehalten.