Die Haushaltsauflösung

Jetzt, wo die Beisetzung hinter ihm lag, hätte der Schmerz eigentlich nachlassen sollen. Doch da blieb noch die Haushaltsauflösung, die lag wie ein Schreckgespenst vor Jürgen. Es graute ihm davor, in die Wohnung seiner Mutter zu gehen, in der er aufgewachsen war und die Sachen seiner Kindheit der Entsorgung zu preis zu geben. Am liebsten, wäre er gar nicht hingegangen. Aber Hilke bestand darauf, vor dem Räumkommando zu schauen, was man vielleicht doch behalten wollte.

Hilke hatte leicht reden, es war ja schließlich nicht ihre Mutter, die gestorben war. Sie hatten ein paar Kartons dabei, für die Sachen, die nicht wegsollten, aber Jürgen konnte sich eigentlich nicht vorstellen, daß man so viel Zeug behalten wollte. Auch wenn Hilke, wie seine Mutter eine Vorliebe für Klimbim hatte und es ihr vermutlich um die Erweiterung ihrer eigenen Sammlung an Porzellanfiguren ging.

Es war klar, daß Hilke sich gleich im Wohnzimmer zu schaffen machte. Da blieb ihm nichts anderes übrig als in Mutters Schlafzimmer anzufangen.

Mutters Brille, lag noch so auf dem Nachttisch, wie sie sie gewöhnlich über Nacht ablegte. Die Gläser überzog eine sehr feine Staubschicht. Das war anders als sonst. Mutter war, wie man so sagte friedlich entschlafen. Sie hatte wohl abends ihre Brille auf den Nachttisch gelegt, sich zur Ruhe gelegt und war am anderen Morgen einfach nicht wieder aufgewacht. Ein Glück, fanden die meisten Leute, auf diese Art zu sterben. Jürgen war sich da nicht sicher.

Er öffnete ihren Kleiderschrank. Den einen von zweien dieser riesigen Schränke. Als Kind hatte er sich hier oft versteckt. Da hingen sie, Mutters Markenzeichen, wenn man so wollte. Zuhause trug sie grundsätzlich einen Arbeitskittel. Solche Polyesterkittel mit kurzen Armen und einer Knopfreihe vorn.

Jürgen nahm einen der ganz bunten Kittel von dem Bügel. Dralon, stand auf dem Etikett, na gut, Kunststoff halt. Der Kittel war, leicht, ein Hauch von Nichts, wenn man so wollte. Sicherlich bequem als Arbeitsschutz im Haushalt zu verwenden.

Jürgen erinnert sich noch genau, wie ihre schwabbernden Oberarme immer aus dem Kittel ragten und bei jeder Bewegung leicht nachschwangen. Auch, daß die Kittel eigentlich viel zu kurz waren und man häufig den Rand ihrer braunen Nylonstrümpfe unter dem Saum sehen konnte, fiel ihm in diesem Moment wieder ein.

Die Nylonstrümpfe hatte sie in den beiden großen Kisten unten im Schrank. Es waren Berge von Nylons. Seine Mutter schmiß Nylonstrümpfe grundsätzlich nicht weg. Sie hatte immer Angst, daß man keine neuen mehr bekam. Nachkriegserlebnisse eben. Früher wurden die Laufmaschen der Strümpfe noch gestopft, aber irgendwann gab es das nicht mehr und die Strümpfe landeten einfach in der unteren Kiste. Jürgen erinnerte sich noch, wie er als Kind mal die gesamte untere Kiste ausgeräumt und mit den ganzen Nylonstrümpfen eine Art Schneesturm gespielt hatte. Er hatte sie hoch in die Luft geworfen und sich davon beregnen lassen. Es war geradezu in ein Baden in diesen Nylons. Seine Mutter hatte nur gelacht, als sie das gesehen hatte und ihn gelassen.

„Aber du räumst sie hinterher wieder in die Schublade“, hatte sie gesagt.

Es waren nicht weniger Nylons geworden, stellte Jürgen fest, als er die Kiste geöffnet hatte. Einen Moment lang dachte er daran noch einmal in diesem hauchzartem Kunsthaufen eine Bad zu nehmen.
Aber er war ja jetzt erwachsen. Da schickte sich so etwas nicht.

Seine Mutter hatte unübersehbar eine Vorliebe für Kunstfasern. Ihre Unterwäsche bestand eigentlich auch zu 90 Prozent aus elastischem Kunstgeweben. Es waren noch dieselben Strumpfhalter und Korsetts, die er schon seit seiner Kindheit kannte.

Vor allem hatte sie wohl eine Vorliebe für hautfarbene Unterwäsche. Vermutlich, weil sie dachte, daß sich die unter dem leicht transparenten Nylonkittel nicht so abzeichnete.

Auch heute noch fragte sich Jürgen, warum gerade die Unterwäsche, die ja eigentlich keiner zu Gesicht bekommen sollte so reichlich mit aufgesetzten Bordüren und gerahmten Spitzeneinsätzen verziert war. In seinen Augen machte das irgendwie wenig Sinn.

Jürgen nahm einen der Hüfthalter und aus dem Fach an der Seite und befühlte den Stoff. Eigentlich hatte er immer ein besonders gutes Verhältnis zu seiner Mutter. Vor allem seit sein Vater nach Australien abgehauen war und sie nie wieder etwas von ihm gehört hatten, waren sie mehr oder weniger auf einander angewiesen.

Einmal die Woche hatte Mutter ihren Rommé-Abend mit drei anderen Damen ihres Alters und am Sonntag ging es absolut regelmäßig zur Kirche. Aber ansonsten waren sie immer unter sich blieben. Mutter kümmerte sich um seine Wäsche, sein Essen und alles was er sonst nach brauchte, daß betrachtete sie als ihre Lebensaufgabe und abends schaute sie gemeinsam fern. Damit war sie wohl rundum zufrieden.

In den letzten Jahren jedoch war ihr Verhältnis zerbrochen. Mutter war weder mit der Wahl seiner Frau einverstanden gewesen, noch mit der der Tatsache, daß er überhaupt eine Frau hatte und sie ihretwegen verlassen wollte. Aber mit vierzig Jahren, war es wirklich Zeit gewesen für eine eigene Familie. Auch wenn das nicht so ganz geklappt hatte, da Hilke keine Kinder wollte. Trotzdem war es doch richtig gewesen, sich irgendwann eine Frau zu suchen.

Es war schwer genug gewesen in dem Alter jemanden zu finden. Und auch Hilke hatte es anfangs befremdlich gefunden, seine erste Frau zu sein, mit über vierzig. Sie hatte sich über ihn lustig gemacht und ihn immer wieder Muttersöhnchen genannt, bis er endlich von zuhause ausgezogen war.

Es hatte gedauert, bis irgendwann sein schlechtes Gewissen nachließ, weil er seine Mutter im Stich gelassen hatte. Aber mit Hilke hatte sich das Leben gut entwickelt. Natürlich hätte er sich auch weiterhin um seine Mutter gekümmert, doch das lehnte sie kategorisch ab. Jetzt wo er sich mit einer Frau eingelassen hatte, die für ihn sorgte, wollte sie von ihm nichts mehr wissen.


*

„Wie ich sehe, kommst du ja richtig gut voran!“ meckerte Hilke, die im Türrahmen stand und ihn beobachtete.

„Hör auf mit der Unterwäsche deiner Mutter zu spielen und pack in die Kiste, was noch zu gebrauchen ist. Ich will hier nicht den ganzen Tag vertrödeln.“

Beschämt legte Jürgen den Hüfthalter zurück in das Fach. Hilke war ähnlich pragmatisch, wie seine Mutter. Vielleicht kam er deshalb so gut mit ihr klar.

„Wenn es dir schwerfällt, die Sachen hier wegzuschmeißen, dann fang der in der Küche an. Da fällt es dir bestimmt leichter!“

Jürgen zögerte. Es war ihm nicht recht, wenn Hilke hier Mutters Sachen durchwühlte.

„Ich mach das hier schon, geh ruhig in die Küche und mach da weiter!“

Diskussionen mit Hilke waren in der Regel sinnlos. Also ging Jürgen mürrisch in die Küche, um dort nach Nützlichem zu suchen.


*

Wenn man sich auf so ein Muttersöhnchen als Mann einließ hatte das Vor- und Nachteile. Der Nachtteil war, daß man ihn erst einmal von der Mutter loskriegen mußte, der Vorteil war, wenn man das geschafft hatte, hatte man ein wirklich treues Schoßhündchen, das keinerlei Flausen mehr im Kopf hatte und einem zutiefst ergeben war.

Jürgens Mutter war schon ein rechter Drachen gewesen, die ihn wirklich fest im Griff hatte. Hilke schaute sich im Kleiderschrank um. Sie hatte sich oft gefragt, wie man nur so unbequemes und geschmackloses Zeug den ganzen Tag über tragen konnte. Sie zog es vor im Haus einen weiten, weichen Pulli und eine sehr bequeme Jogginghose anzuziehen.

Hilke griff nach einem der Korseletts, die gleich neben diesen billig wirkenden geblümten Kitteln hingen und befühlte den Stoff. Steiff, hart, so was konnte man doch nicht tragen. Sie jedenfalls nicht. Allein schon die vorne liegende Häkchenreihe war eine Zumutung. Da brauchte man ja Stunden, bis man es zugeknöpft hatte.

Trotzdem reizte es Hilke so ein Monster mal auszuprobieren. Vielleicht eine gute Gelegenheit, bevor die Sachen alle im Müll landeten, wo sie Hilkes Meinung nach auch hingehörten.

Sie zog ihr Kleid aus und begann sich in das Korselett zu quälen. Gut, daß sie eine recht ähnlich füllige Figur, wie Jürgens Mutter hatte. Andererseits waren die Hakenverschlüsse so nicht gerade leicht in die Ösen zu fummeln.
Nach dem achten Häkchen, spürte sei den Druck an dem Daumen. Aber nun hatte sie der Ehrgeiz gepackt. Sie atmetet tief aus und schloß ein Häkchen nach dem anderen. Herrgott, sie hatte doch schon ein F-Körbchen und die Körbchen des Korseletts waren immer noch zwei Nummern zu groß.

Also mit diesen herumhängenden Strumpfhaltern sah sie im Spiegel wirklich albern aus. Das mußte man schon richtig machen. Sie zog ihren Slip aus und suchte sich ein Paar heile Nylons aus der Schublade. Die Frau hatte offenbar einen Strumpfspleen. Egal. So wirkte es jedenfalls nicht mehr allzu albern. Sie suchte sich noch, den am wenigsten bunten Kittel aus dem Schrank und zog ihn über. Jetzt fehlten nur noch die passenden Schuhe. Jürgens Mutter bevorzugte Fellpantoffeln. Hilke schlüpfte in ein Paar mit Leopardenmuster.

Auch hochhackige Pumps hätten es jetzt nicht mehr rausgerissen, fand Hilke als sie vor dem Spiegel der Schranktür posierte. Sie sah aus wie eine Trutsche. Es war so schlimm, daß sie selber lachen mußte.

Hilke überlegte, ob sie sich Jürgen so präsentieren sollte. Nur zum Spaß und um zu sehen, wie er reagierte. Doch das war im Moment sicher unpassend.

Eigentlich war Hilke das aber auch egal. Sie fand es amüsant und bevor dieser ganze Krempel weggeschmissen wurde, konnte sie ihn noch mal daran erinnern, war er für ein Glück mit seiner Frau hatte, die nicht den ganz Tag so einem Kunststoffkittel herumlief.

„Jürgen!“ rief sie lautstark.

„Was?!“

„Komm mal gucken!“

„Was denn?“

„Du sollst mal herkommen und gucken!“

„Was ist denn wieder!“ hörte Hilke ihren Mann nörgelnd im Flur. Ganz so, als hätte sie ihn bei etwas Wichtigem gestört. Aber er kam. Das wußte sie.

„Was soll das denn?“ fragte er verärgert, als er in der Tür stand und seine Frau in den Sachen seiner Mutter sah.

„Steht mir das nicht?“ fragte sie amüsiert.

„Das ist nicht lustig.“

Hilke stellte ihr linkes Bein aus, bis der Strumpfrand im Schlitz der Knopfreihe zu sehen war, legte ihre Hand auf den Hinterkopf und warf ihrem Mann eine Kuss zu.

„Würdest du mich auch gerne jeden Tag so sexy sehen?“ machte sie sich über ihn lustig.

Jürgen kam auf sie zu. Er war wirklich verärgert.

„Zieh das aus!“

„Und wenn nicht?“

Jürgen griff nach ihrer Schulter und versucht ihr den Nylonkittel auszuziehen.

„Zieh das bitte aus!“ forderte er noch einmal.

Doch Hilke wehrte ihn ab. Es kam tatsächlich zu einem Gerangel.

„Huch! Nun sei doch nicht so grob!“ alberte sie herum und ließ sich hinterrücks aufs Bett fallen. Mit so einer heftigen Reaktion hatte sie nicht gerechnet, konnte aber auch nicht aufhören zu lachen.

Erst als Jürgen den Kittel hochschob und ihre Beine auseinander drückte, verstummte ihr Lachen. Bevor sie wirklich begriff, was da passierte hatte Jürgen schon seinen Kopf zwischen ihre Schenkel geschoben und saugte sich regelrecht an ihr fest.

Das hatte er schon lange nicht mehr gemacht, sehr lange nicht mehr. In Sachen Körperlichkeit war ihre Ehe seit geraumer Zeit etwas eingeschlafen. Hilke schob ihre Schenkel sanft wieder zusammen, damit er ihr jetzt nicht mehr entwischen konnte. Dann griff sie nach seinem Kopf und führte ihn so, daß sie möglichst schnell kam, bevor er es sich doch noch anders überlegen konnte.

Er schien aber gar nicht vorzuhaben, sich das anders zu überlegen, sondern verharrte zwischen ihren Schenkeln, bis einen zweiten Orgasmus gekriegt hatte.

Hallo, dachte Hilke. Was war das denn?

Inzwischen hatte Jürgen sich wieder zurückgezogen und stand vor dem Bett.

„Das ist mein Ernst, bitte zieh das aus und lass uns die Sache hier so schnell wie möglich hinter uns bringen!“ sagte Jürgen in einem ungewöhnlich scharfem Tonfall. Sonst traute er sich nicht Hilke irgendwelche Vorschriften zu machen.

„Nun reg dich bloß nicht so auf. Es war ja nur ein Spaß!“ behauptete Hilke irritiert.

„Ja, ja ein Spaß. Aber jetzt lass uns bitte die Sache hier beenden! Ich möchte aus dieser Wohnung schnellstens weg, wenn möglich!“

Hilke lag immer noch auf dem Rücken und versuchte ihren Unterbauch wieder zur Ruhe kommen zu lassen.

„Hast du das bei Mutti früher auch immer so gemacht?“ fragte Hilke, weil ihr das spontan durch den Kopf schoß.

„Sag mal spinnst du jetzt!“ regte sich Jürgen wenig überzeugend auf. „Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein!“

Hilke richtete sich halb auf und sah Jürgen fest in Augen.

„Hast du?“

„Du bist ja vollkommen verrückt! Über so etwas will ich gar nicht mit dir reden!“ empörte sich Jürgen heftig. „Ich verlade jetzt die fertigen Kisten ins Auto. Wenn du dir was Vernünftiges angezogen hast, kannst du mir ja helfen und dann können wir hier weg.“

Als er aus dem Zimmer gestürmt war, begann Hilke die vielen Häkchen wieder zu öffnen. In Gedanken spielte sie Jürgens Reaktionen durch. Bedächtig zog sie ihr eigenen Sachen wieder an und starrte auf das Mieder, das sie eben ausgezogen hatte. Was sie dabei dachte, behielt sie in jedem Fall für sich. Vorerst.

Aus dem Schrank sucht sie drei der erträglicheren Kittel heraus und verpackte sie in dem mitgebrachten Karton, dazu nahm sie eine Hand voll Nylons, diverse Hüfthalter und einige der Korseletts. Als der Karton fast voll war, schloss sie ihn und trug ihn in den Flur.

Den Karton drückte sie Jürgen in die Hand und sagte: „Hier! Ich denke, die Sachen können wir noch gut gebrauchen!“

Jürgen schaute kurz in den Karton und warf dann Hilke einen fragenden Blick zu. Sein starrer Gesichtsausdruck und sein halb offener Mund vermieten Hilke an, dass er angestrengt überlegte, wie er ihr jetzt widersprechen könnte. Aber das ließ sie nicht zu.

„Bring den Karton runter ins Auto!“ befahl sie nachdrücklich. „ich sagte doch, wir brauchen dies Sachen noch!“

Widerspruch kam von ihrem Mann jetzt nicht mehr und das überzeugte Hilke, daß sie mit ihren Vermutungen absolut richtig lag.




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