Die Rollstuhlfalle

Kurzkrimi

Eigentlich war Hannes gegen jede Form der Gewalt. Deshalb hatte er auch den Kriegsdienst verweigert und sich entschlossen, seinen Dienst für die Allgemeinheit lieber auf eine friedlichere Art und Weise versehen. Seit einem halben Jahr war er nun schon im Pflegedienst tätig. Er erledigte und organisierte all die kleinen Dinge des Alltags, die einige seiner älteren Schutzbefohlenen nicht mehr selbst in die Hand nehmen konnten. Hannes war immer aufmerksam und mit viel Liebe bei der Sache. Er pflegte die alten Leutchen eigentlich gern. Mit einer Ausnahme: Hella von Boedershausen. Die war eine rechte kleine Tyrannin. Dabei war sie besonders auf seine Hilfe angewiesen. In ihrem Rollstuhl konnte sie so gut wie nichts mehr alleine machen. Zwei Stunden am Tag besuchte Hannes die alte Dame. Am späten Nachmittag kam dann eine hauptamtliche Pflegerin und erledigte den Rest.

Aber wie gesagt: Hella war ein Drachen. Sie war bösartig, gehässig und erfreute sich daran, die Menschen mit ihrer Krankheit quälen zu können. Es hatte etwas gedauert bis Hannes es merkte, aber dann hatte er sie das erste Mal erwischt, wie sie ihren Essensteller mit voller Absicht auf dem Boden entleerte. Hysterisch kreischte sie nach Hannes, der musste die Sauerei ganz schnell aufwischen, bevor Hella einen weiteren Schreikrampf bekam. So ging das jeden Tag. Alles verschüttete sie, warf sie absichtlich um, zickte herum. Hannes wischte für ihren Geschmack nicht gründlich genug auf.

„Hier! Da ist noch ein Schmierstreifen. Dort liegt doch Staub.“ Und Hannes musste springen. Dann rollte sie mit ihrem Stuhl auch noch durch den Dreck und lachte gehässig.

Wenn sie spazieren gingen, schob er den Rollstuhl mal zu schnell, mal zu langsam. Er kaufte immer die falschen Sachen ein, musste sich von ihr anschreien lassen. Sie rief sogar bei ihm zu Hause, weil er während der Arbeitszeit irgendetwas schlampig ausgeführt oder vergessen hatte. Die ersten Male war er tatsächlich noch einmal zurückgefahren und hatte die Sachen erledigt. Doch das war reine Schikane und er fing an, Hella am Telefon abzuwimmeln. Er versuchte es jedenfalls. Doch prompt rief sie bei seinem Vorgesetzten an und beschwerte sich über ihn. Der sagte nur: „Alte Leute sind manchmal etwas wunderlich. Das ist ebenso in diesem Job.“ Trotzdem bat Hannes ihn um eine Versetzung. Natürlich wurde das Anliegen abgelehnt. Schließlich war er Zivildienstleistender und konnte sich seine Patienten nicht einfach so aussuchen.

Dass er Hellas Terror noch fast ein Jahr ertragen sollte und überhaupt nichts dagegen unternehmen konnte, brachte Hannes an den Rand des Wahnsinns. Ihr Verhalten wurde jeden Tag etwas schlimmer. Gestern hatte sie sogar mit einem Glas nach ihm geworfen, weil er jodhaltiges Salz gekauft hatte. Dabei war das wichtig, wo sie doch so wenig Fisch aß.

Auch während des heutigen Spaziergangs auf den Wallanlagen hatte sie nichts Besseres zu tun, als ihn unsinnig durch die Gegend zu scheuchen. Erst wollte sie den Wall rechtsherum umrunden, dann nach einigen Metern linksherum. Oder vielleicht doch wieder rechts? Wenn etwas auf dem Weg lag, sollte Hannes es aufheben, damit sie prüfen konnte, ob es sich dabei um etwas Brauchbares handelte. Natürlich fasste sie die Sachen nicht an, und bevor Hannes den Rollstuhl zu weiterschieben konnte, musste er sich an einem Handtuch, das sich immer in der hinteren Stuhltasche befand, die Hände abwischen. Hannes hob also gehorsam Papierfetzen, leere Zigarettenpackungen und Dosen auf. Dann entdeckte Hella etwas, das sie für eine Geldbörse hielt. Hannes wies darauf hin, dass es sich dabei um Hundekot handelte. Doch Hella bestand lautstark darauf, sich das näher ansehen zu wollen. Jetzt war bei Hannes die Schmerzgrenze überschritten. Er lehnte es ab, das anzufassen und schob die heftig zeternde Hella einfach weiter.

So schnell gab die Frau nicht auf. „Zurück, zurück“, kreischte sie ihn fortwährend an. Hannes Nerven lagen blank.

Ohne eigentlich darüber nachzudenken, ließ er plötzlich ihre Handtasche vom Rollstuhlgriff gleiten.

Als Hella das merkte, schrie sie ihn an: „Was machst du denn da, du ungeschickter Bengel?“

Hannes schob die alte Dame einfach kommentarlos zehn Meter weiter den Wall entlang.

Dann sagte er: „Jetzt reicht’s mir und zwar endgültig.“

Wütend schob er den Rollstuhl auf die kleine Böschung zu und ließ ihn dort hinunter rollen. Die kreischende und um Hilfe schreiende Hella landete in einem kleinen Seitenarm der Weser, der die Stadt umfloss. Sofort versank der Rollstuhl mitsamt Hella in dem schnell fließenden Gewässer. Während der Stuhl sich noch einmal drehte und Räder nach oben aus dem Wasser ragten, blieb Hella verschwunden. Dann tauchte auch der Stuhl wieder unter und trieb wohl davon.

Hannes atmete tief durch. Das hatte er nicht gewollt. Aber noch einen Tag länger mit dieser Hexe, und er wäre zu Mörder geworden. Plötzlich begriff er, dass dies ja schon längst geschehen war. Fieberhafte dachte er nach, jetzt nur nicht in Panik geraten. Er lief zurück, um die fallengelassene Tasche zu holen und sie ihr ins Wasser nach zu werfen. Was sollte er bloß sagen, wenn man ihn fragte, wo sein Schützling abgeblieben war?

Auf einmal sah Hannes, wie von der anderen Seite des Walls her Passanten auf ihn zu liefen. Sie mussten Hellas Schreie gehört haben. Schnell lief er mit der Handtasche in der Hand zu der Stelle, wo die Rollstuhlspuren ins Wasser führten.
„Was ist geschehen? Hier hat doch jemand um Hilfe gerufen“, fragte der Spaziergänger und starrte auf die Spuren.

„Wir sind spazieren gegangen. Ich habe den Rollstuhl geschoben“, erklärte Hannes und dachte kaum nach, während die Erklärungen aus ihm heraussprudelten. „Wir hatten da hinten die Tasche verloren. Ich bin zurückgegangen, um sie zu holen. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie der Rollstuhl hier hinabschoss. Sie muss zu dicht an den Abhang gerollt sein. Dann konnte sie sich wohl nicht mehr halten und … Ach, ich hätte besser auf sie aufpassen müssen.“

„Wie schrecklich“, sagte die Frau des Spaziergängers und hielt sich entsetzt eine Hand vor den Mund. Das klang wirklich überzeugend, und Hannes war sehr zufrieden mit sich.

Doch plötzlich hörte er eine ihm wohlbekannte Stimme keifen.

„So nicht! Geschubst hat er mich. Einfach da hinunter geschubst. Dieser Verbrecher! Umbringen wollte er mich!“

Klatschnass und tröpfelnd stand Hella nur wenige Meter weiter am Ufer des Flüsschens.

„Gott sei Dank war ich westfälische Jugendmeisterin im Freistil, sonst hätte ich das wohl nicht überlebt. Dieser Mörder!“

Dann begann Hella mit stampfenden Schritten den Abhang heraufzusteigen. Oh Wunder, sie konnte gehen. Wie war das nur möglich? Diese plötzliche Genesung? Hannes brauchte darüber eigentlich nicht lange nachdenken. Diese gehässige alte Ziege hatte sich nur in den Rollstuhl gesetzt, um Leute wie ihn auf Hochleistungsniveau quälen zu können. Diese Frau war durch und durch böse, sonst nichts. Hannes rannte die paar Meter den Abhang auf sie zu. Noch bevor sie verstand was geschah, hatten sich seine Hände um ihren Hals gelegt und drückten so fest wie möglich zu. Doch seine Bemühungen blieben vergeblich. Der Passant und seine Frau hatten sich schnell zwischen sie geworfen. Der Mann lehnte sich schwer auf Hannes Brust und die Frau schrie fortwährend um Hilfe.

Dazu krächzte Hella nach Luft schnappend: „Dafür gehst du in den Knast. Das ist ja wohl klar. Und einen neuen Rollstuhl kriege ich auch von dir. Darauf kannst du dich verlassen!“

Die Rollstuhlfalle (61) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 1997. Alle Rechte vorbehalten.