Tod im OP

Kurzkrimi

Professor Schneider wusste bereits, wen er da vor sich hatte, als er den OP betrat. Draußen auf dem Gang hatte er den Patienten liegen gesehen und sofort wiedererkannt. Es war der Mann auf dem Foto, das ihm der Privatdetektiv gestern gezeigt hat. Schon lange ahnte Schneider, dass seine Frau fremdging, doch er hatte beschlossen erst etwas zu unternehmen, wenn er unwiderlegbare Beweise in der Hand hatte. Jetzt hatte er durch eine schicksalhafte Fügung ihren Liebhaber auf dem OP-Tisch liegen. Gott hatte dieses Leben in seine Hände gelegt.

Ein Motorradunfall. Es war ein junger Bursche, attraktiv, wie aus der Rasierwasser-Werbung geschnitten. Genau das richtige für frustrierte Ehefrau zum abreagieren. Schneider sah sich die Schädeldecke genau an. Sie war nicht nur gebrochen, sondern an einer großen Stelle gesplittert und durchbrochen. Schneider konnte nach dem Auftrennen der Kopfhaut seinem Nebenbuhler direkt ins Gehirn schauen. In dem gekräuselten Eiweißklumpen schien Schneider nach dem zu suchen, was seine Frau in den Bann dieses Mannes gezogen hatte. Aber er erwartete nicht wirklich, es dort zu finden. Er ahnte, dass sich die Anziehungskraft dieses Jungen eher in anderen Körperteilen finden lassen würde. Vielleicht sollte er eine vorzeitige Autopsie am lebenden Objekt durchführen und danach suchen.

Schneider begann die Wunde von Splitterstücken zu befreien. Aber wozu eigentlich? Der Mann würde es ihm später mit einem Lächeln danken und in ein paar Wochen wieder seine Frau besteigen. Da war ein langer scharfer Splitter in die Spalte zwischen die Hälften des Lobus frontalis gerutscht. Schneider versuchte ihn mit der Pinzette zu fassen, sie griff nicht richtig, denn ihre Klammerköpfe waren zu schmal. Schneider hielt inne. Wenn er nun ein klein wenig ungeschickt war, die Pinzette abrutschte, vielleicht noch den Splitter etwas tiefer drückte, nur so weit, dass er gerade eben die Verästelung des Nervus opticus berührte oder gar durchtrennte? Alles war möglich. Der Mann wäre mit Sicherheit stark sehbehindert, wahrscheinlich blind! Bei gleichzeitiger Verletzung des Genu corporis callosi wäre sogar eine Lobotomie möglich. Dann würde der Kerl nie wieder seine Frau anfassen. Er würde nicht einmal mehr im Traum daran denken. Schneider lächelte still über sein eigenes kleines Sprachspiel. Noch immer hielt er den Splitter ungeschickt zwischen den Greifern der Pinzette. Ein Unfall! Er versuchte ihn unauffällig runterzudrücken. Aber es ging nicht. Nicht, dass er es physisch nicht geschafft hätte. Da war etwas in ihm, dass es einfach verhinderte. Er konnte es nicht. Obwohl er den Mann nach seinem Ermessen über alles hasste, schaffte er es nicht, ihm diesen Splitter ins Gehirn zu treiben, auf dass er zur sabbernden, hilflosen Menschen-Puppe wurde.

„Schaffen Sie es nicht, Professor?“ fragte der Anästhesist, der naturgemäß dicht neben ihm stand und ihn beobachtete.

„Eine breitere Pinzette“, bölkte Schneider die Schwester, die gerade versuchte, ihm den Schweiß von der Stirn zu wischen, an. Die griff erschreckt mit der freien Hand in den Besteckkasten und wollte ihm das gewünschte Werkzeug reichen. Doch in der Bewegung rutschte ihr Fuß auf einer Lache heruntergetropften Schweißes oder Blutes aus. Mit rudernden Armen wollte sie sich abstützen, hielt sich mit einer Hand an Schneider fest, die andere trieb mit einer weit ausholenden Schwungbewegung die Pinzette direkt in das offengelegte Hirn des Patienten. Sie steckte fast bis zum Anschlag irgendwo zwischen dem vorderen Frontlappen und dem Balkenknie. Der Patient bäumte sich in mehreren heftigen Windungen auf und blieb dann still liegen.

„Verdammte Scheiße!“ nuschelte der Anästhesist halblaut. Schneider drehte sich halberleichtert zur Schwester um. „Machen Sie sich keine Sorgen. Das war ein Unfall. Das kann schon mal passieren. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass das nicht an die große Glocke gehängt wird.“

Der Rest der Crew nickt mit stummem Einverständnis. So etwas hätte wirklich jedem von ihnen passieren können.


Tod im OP (73) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 1994. Alle Rechte vorbehalten.