Nur ein kleiner Sukkubus

Seine Patentante musste wohl ziemlich reich sein. Sie lebte in einem riesigen, alten Haus in der Nähe von Höxter. Sie hatte Dienstpersonal und besaß eine kleine Fabrik, die Farbstoffe für Lebensmittel herstellte. Das war auch schon alles, was Markus bislang über diese Patentante wusste. Seit seine Mutter Weihnachten vor zehn Jahren mit einer Gänsekeule quer über den ganzen Tisch nach ihr geworfen hatte, war der Kontakt im Prinzip abgebrochen. Seine Mutter und Tante Elisabeth waren früher einmal unzertrennlich gewesen. Markus hatte keine Ahnung, was zu diesem Gänsekeulenwurf geführt hatte, aber jetzt hielt seine Mutter es für angemessen, eine Versöhnung herbeizuführen. Und dafür hatte sie ihren Sohn vorgeschickt.

„Schließlich ist es deine Patentante. Und wenn du demnächst konfirmiert wirst, sollte sie schon dabei sein, findest du nicht?“

Markus hatte gesagt, dass ihn das eigentlich nicht interessierte. Aber seine Mutter wies darauf hin, dass sich das für ihn ganz sicher lohnen würde. Und außerdem hatte Elisabeth einen eigenen Tennisplatz und spielte wohl auch ganz gut. All das hatte Markus nicht überzeugt. Es war ihm mehr als unwohl bei dem Gedanken, allein zu einer Tante fahren, die er so gut wie gar nicht kannte. Doch seine Mutter hatte einfach angerufen und seinen Besuch für Ostern angekündigt. Bedauerlicherweise schien Tante Elisabeth sich darauf auch noch zu freuen. Von daher blieb Markus keine Wahl mehr.

Der Bahnhof in Höxter lag still in der Abenddämmerung, als Markus aus dem Zug stieg. Kein solch hektisch buntes Treiben, wie er es aus Hamburg gewohnt war. Vereinzelt stiegen Fahrgäste aus und trieben zielstrebig auf den Ausgang zu. Markus wusste nicht, wie seine Patentante aussah, aber er erkannte sie sofort. Sie stand am Ende des Bahnsteigs vor dem eisernen Treppengeländer und schaute sich die vorbeiziehenden Passanten genau an. Eine Woche in diesem Kaff, das würde entsetzlich langweilig werden. Markus schwang seinen Rucksack über die Schulter und ging in Richtung Treppe. Tante Elisabeth entdeckte ihn und kam lächelnd auf ihn zu. Dann standen sie sich gegenüber. Eine peinliche Sekunde lang war nicht klar, wie man sich begrüßen sollte. Markus streckte zaghaft eine Hand aus, doch Elisabeth ignorierte sie und nahm ihn einfach in Arme. Wie ein nasser Sack hing er in ihrer Umarmung gefangen.

„Hast du den Weg doch noch gefunden?“ fragte sie und küsste ihn feucht auf die Wange.

„War ja nicht so schwer“, erwiderte Markus distanziert und hoffte, dass sich bald eine Gelegenheit bieten würde, sich unauffällig die Wange abzuwischen. Aber das war unnötig. Denn Elisabeth zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und wischte ihm damit von sich aus die Wange ab. Schon wegen des Lippenstiftes, den sie nicht zu knapp aufgetragen hatte.

„Wir wollen doch nicht, dass du mit dem Lippenstift durch die halbe Stadt läufst.“ Und nach kurzer Pause, in der sie ihn von oben bis unten eingehend betrachtete, fügte sie das unvermeidliche „Groß geworden bist du“ hinzu. Markus wünschte sich nichts mehr, als dass ihn diese Frau so bald als möglich in Ruhe lassen würde.

Unten vor dem Bahnhof parkte ein kleiner, roter Mazda. Ein MX5 mit offenem Verdeck. „Es ist noch bisschen früh dafür, aber heute geht es mit dem Wetter einigermaßen.“

Eigentlich war Markus nicht sonderlich ängstlich was das Autofahren anging, aber hier waren die Straßen nicht zwei- oder dreispurig, es ging auf schmaler Fahrbahn bergauf, bergab, durch waldgesäumte, enge Kurven, und Elisabeth fuhr seiner Meinung nach ein wenig schnell.

„Bist du ängstlich?“ fragte sie, als sie sah, dass er sich unwillkürlich in jeder Kurve festhielt und den Blick nicht von der Straße lassen wollte.

„Eigentlich nicht.“

Sie lachte und trat noch ein wenig mehr aufs Gas. „Dann ist ja gut.“

Als sie auf einen kleinen Feldweg abbog, fragte sie: „Hast du Hunger?“ Der Appetit war Markus während der Fahrt beinahe vergangen, aber er wusste, dass Tanten es gerne hörten, wenn man Hunger hatte.
„Das Essen steht schon auf dem Tisch. Zur Feier des Tages gibt es Wildschweinragout. Ich hoffe du magst Wildschwein.“

Markus wusste nicht, ob er Wildschwein mochte oder nicht. Was er aber wusste war, dass er noch nie in seinem Leben ein Haus betreten hatte, wie dieses hier. Der Wagen war durch ein kleines Eisentor gefahren, die Bäume hatten sie hinter sich gelassen und mitten in dem kleinen Park lag eine vom Keller bis unter die Dachkante mit Efeu zugewachsene, dreistöckige Villa. Der Kies knirschte, als Elisabeth neben dem schwarzen Mercedes mit den getönten Scheiben parkte.

„Komm mit“, forderte sie ihn auf, als er wie angewurzelt vor dem Haus stehen blieb und es mit großen Augen anstarrte. „Den Garten kannst du später bewundern. Jetzt bringst du erst mal deine Sachen auf dein Zimmer und dann wird gegessen.“

Elisabeth zog ihn am Ärmel durch die Tür. Drinnen war Markus noch weit mehr beindruckt. Alle Decken und Wände mit altem, dunklen Holz getäfelt. Sehr alt, wie ihm schien. Es wirkte monströs, finster, hässlich aber unheimlich beeindruckend. Die schwere, geschwungene Holztreppe, die Messinglampen an den Wänden und Decken, die schweren Möbel, kitschigen Landschafts- und Porträtbilder umarmten Markus wie eine plötzlich aufziehende, tiefgraue Gewitterfront.

Sein Zimmer war ganz oben, fast unterm Dach. Es hatte einen kleinen Erker, ein derbes Holzbett mit weißem Himmel, rechts einen kleinen runden Tisch mit Mahagoniplatte, schwere wuchtige Sessel und einen Kleiderschrank mit Spiegel. Nichts von alledem wollte ihm wirklich gefallen. Keinesfalls wollte er diese Möbel berühren, benutzen, geschweige denn in so einem Zimmer allein die Nacht verbringen.

Wenigstens war das Wildschwein gut, lag dann aber schwer im Magen, genau wie die Einrichtung dieses Hauses und die Tante, von der Markus beim besten Willen nicht wusste, was er mit ihr reden sollte. Stumm saß er da und antwortete zögernd auf ihre Fragen nach seiner Mutter, seinen schulischen Leistungen und was später mal aus ihm werden sollte.

Elisabeth hatte tatsächlich ein Dienstmädchen. Und Markus betrachtete sie verstohlen, als sie nach dem Essen den Tisch abräumte und Getränke ins Wohnzimmer, oder Salon, wie die Tante es nannte, brachte.
Als die Mini-Big Ben im Flur die zehn Uhr-Marke anschlug und die Tante daraufhin prompt meinte, dass es Zeit wäre sich zurückzuziehen, war Markus wirklich erleichtert. Es war zwar noch lange nicht Zeit schlafen zu gehen, aber er war froh, dass damit die Fragerei ein Ende hatte.

Kaum war er die ersten Minuten allein in seinem Gästezimmer, da bedauerte Markus beinahe schon wieder, dass er nicht mehr unten im Salon bei der Tante saß. Er setzte sich aufs Bett und fühlte sich unendlich einsam und deprimiert.

Kurze Zeit später jedoch klopfte es leise an seiner Tür. Vera, das Dienstmädchen, kam herein und stellte ein Tablett mit einem heißen Getränk auf dem Nachttisch ab.

„Frau Gröne meinte, Sie möchten vielleicht noch einen heißen Kakao. Oder lieber einen Tee zur Nacht?“

„Nein, Kakao ist gut, vielen Dank“, erwiderte er. Vera war sicher sehr nett und er überlegte, wie er sie dazu bringen konnte, ihm noch ein wenig Gesellschaft zu leisten. Aber sie nickte nur und verließ das Zimmer.
Vera war bislang das Einzige, was ihm die Zeit hier verkürzen könnte. Sicher sie war viel zu alt für ihn, aber sie war hübsch, quälte ihn nicht mit Fragen und erwartete nicht von ihm, sich zu verhalten, wie ein guter Verwandter.

Markus probiert den Kakao. Da war ein Häubchen mit Sprühsahne und Schokoladenstreusel drauf. Wunderbar. Die erste wirklich angenehme Überraschung dieses Tages. Markus liebte Kakao und konnte ihn im Prinzip literweise trinken.

Die Müdigkeit kam unerwartet plötzlich, wie ein nasser Lappen, der einem ins Gesicht flog. Das machte es schon erheblich leichter, in diesem fremden Bett zu schlafen. Und kaum hatte er sich hingelegt, stürzte er nach einem Sprung ohne Fallschirm in die allesverschlingende geistige Finsternis.


*

Da war doch ein Geräusch. Ich schaute zur Tür. Licht schien unter dem Türspalt hindurch. Da war deutlich eine Bewegung zu sehen. Jetzt schob sich die Tür langsam auf. Ein Lichtstrahl fiel quer über mein Bett. Jemand stand in dem matt erleuchteten Türspalt und sah zu mir herüber. Dann wurde die Tür schnell wieder geschlossen. Aber jemand war in das Zimmer gekommen. Ich konnte die Umrisse deutlich in dem verbliebenen Mondlicht erkennen. Die Silhouette kam auf mich zu.

„Ist da jemand?“ flüsterte ich in die Dunkelheit. Aber es kam keine Antwort. Jetzt war jemand direkt an meinem Bett. Der Schatten beugte sich zu mir herüber. Ein Lichtstrahl des Mondes, der sich durch einen Gardinenspalt gemogelt hatte, fiel direkt auf ihr Gesicht. Es war eine grauenhafte Fratze. Ein hässliches, faltig rundes Frauengesicht.

„Was wollen Sie?“ fragte ich. „Psst! Bleib ganz ruhig“, kam die leise gezischelte Aufforderung zurück. Die Frau setzte sich auf mein Bett.

„Wer sind Sie?“

„Niemand. Bleib einfach ganz ruhig“, säuselte die Frau.

Dann sah ich, wie sie den Bademantel aufschlug. Das Licht war sehr schwach. Aber es reichte um zu erkennen, dass sie darunter nackt war. Ihre Brüste hingen wie Luftballons, denen die Puste ausgegangen war, bis fast auf den Bauchnabel. Darunter lagen eine Menge faltiger Fettrollen, die sich bei der nächsten Vorwärtsbewegung leicht wabernd von einer Seite auf die andere verlagerten.

„Was soll denn das?“ schrie ich die Frau an und versuchte mich im Bett aufzurichten. Sie aber drückte mich mit einer Hand, die ihre Kraft wohl einer raffiniert implantierten Hydraulik verdankte, zurück, legte die andere Hand auf meinen Mund und zischelte wieder: „Psst. Du sollst ruhig bleiben! Ich tu dir schon nichts.“

Aber ich wusste, dass sie log. Egal, was sie von mir wollte, ich wollte es nicht. Ich versuchte mich unter ihrem Arm weg zu winden. Aber sie griff mit beiden Händen fest zu und war Sekunden später auf mir. Ihr Gewicht presste mir die Luft aus dem Brustkorb. Ich versuchte mich mit aller Kraft unter ihr wegzudrehen. Tonnenschwer lastet ihr Gewicht auf mir. Meine Beine strampelten sinn- und haltlos in der Luft herum. Ich drehte mich abwechselnd von rechts nach links und umgekehrt. Doch es gab kein Entkommen! Immer wieder schaffte sie es, mich unter ihr halten. Ich wollte um Hilfe rufen, aber mir fehlte einfach die Luft. Die Rangelei schien eine mittlere Ewigkeit zu dauern. Ich spürte ihr fettes, schwitzendes Fleisch auf meiner Haut, nahm meine ganze Kraft zusammen und versuchte sie immer wieder abzuschütteln. Ohne Erfolg. Sie kicherte nur hämisch, wenn sie mir nicht gerade ihre hektischen Atemstöße ins Gesicht blies.

Dann ging meine Kraft endgültig zur Neige. Es begann in den Beinen, dann erlahmte mein Becken und schließlich wurden die Arme schlaff. Ich begriff, dass ich ihr ausgeliefert war. Doch kaum war meine Gegenwehr erlahmt, schnellte ihr klobiger Kopf vor und ihre sabbernassen Lippen saugten sich an meinem Hals fest.

Das kitzelte erst, dann schmerzte es, weil sie mein Blut bis durch die Haut hindurch saugte. Dann setzte sie sich auf, hielt aber weiterhin meine Arme fest. Weiter geschah nichts, sie saß noch einige Zeit auf mir, dann stieg sie plötzlich herunter und gab mich frei. Sie zog ihren Mantel wieder zu, und kurz bevor mir vor Erschöpfung die Besinnung entschwand, sah ich, wie sie mein Zimmer verließ.

„Was hat sie nur gewollt?“ war das letzte woran ich dachte, bevor ich wieder einschlief.


*

Vielleicht lag es an dem Bett oder an der fremden Umgebung? Markus wachte am Morgen Schweiß gebadet, in einem völlig zerwühlten Bett auf. Sein Schlafanzug lag vor dem Bett auf dem Boden. Er hatte einen entsetzlichen Alptraum gehabt. Ihm war übel. Wie konnte er so etwas Ätzendes träumen? Er wagte gar nicht mehr daran zu denken und wollte um Gottes willen nicht daran erinnert werden. Aber als er unter Dusche stand und feststellte, dass er nachts wohl einen Samenerguss gehabt haben musste, kam dann doch die Erinnerung an das Geträumte wieder hoch. Wie konnte man nur so etwas träumen und dann …? Markus fühlte sich krank.

Tante Elisabeth saß bereits am Frühstückstisch und las Zeitung.

„Ich hoffe, du hast gut geschlafen?“ begrüßte sie ihn freundlich.

„Ja“, log Markus, der jede Diskussion über seine erste Nacht in diesem Haus vermeiden wollte.

„Na, frisch siehst du aber nicht gerade aus!“ Elisabeth schaute ihn eindringlich an. „Möchtest du heute ein erstes Spiel gegen mich wagen? Oder wollen wir in die Stadt Einkaufen fahren?“ fuhr die Tante fort, nachdem Markus nicht weiter auf sein Aussehen einging.

„Tennis wäre gut.“

Markus spielte seit zwei Jahren, aber die Plätze waren rar und hier hatte er vorgehabt, eine Woche lang Intensiv-Training zu betreiben. Er hoffte, seine Tante hätte ausreichend Zeit, denn ohne Partner wurde aus dem Training wohl nichts.

„Alles, was du möchtest. Ich habe mir die ganze Woche für dich frei genommen, mein Liebling.“

Skeptisch schaute Markus Elisabeth an. Aber sie lächelte nur freundlich zu ihm herüber. Warum mussten Tanten immer solche Kosenamen für ihre Neffen haben.

Bis zum frühen Nachmittag spielten sie Tennis. Seine Tante war in Topform. Sie spielte um einiges besser als er. Immer öfter nahm sie sich Zeit und zeigte ihm, was er an seiner Spieltechnik verbessern könnte. Er hatte die Hoffnung, durch die Schnelligkeit seiner Jugend genügend Punkte machen zu können. Aber Elisabeth war mit ihren über vierzig Jahren unglaublich flink und wendig, und wenn Markus einmal einen guten Return zustande brachte, war sie längst am Netz und spielte ihn nach spätestens zwei weiteren kurzen Bällen aus.

„Ich hoffe, du verlierst nicht die Lust“, sagte sie, nachdem er den dritten Satz zu Null abgegeben hatte. „Wir können gerne ein paar einfache Grundlinienbälle spielen, wenn dir das lieber ist.“

Nein, das war Markus nicht lieber. Jedenfalls jetzt noch nicht. Wenn er schon nicht gewinnen konnte; einen Punkt aber würde er kriegen! Früher oder später.

Als sie eine Pause einlegten und Vera ihnen Getränke herausbrachte, musste sich Markus wieder an die letzte Nacht erinnern. Wenn er schon so einen Unsinn träumte, warum dann nicht wenigstens von der hübschen Vera?

„Die gefällt dir wohl?“ fragte Tante Elisabeth, die seinen Blick bemerkt hatte, ganz direkt. Markus war das unangenehm, er fühlte sich ertappt und das verschwitzte Gesicht seiner Tante, in das er blickte, erinnerte ihn an unnötige Details seines Traumes. Es war ihm mehr als peinlich daran denken zu müssen, während er mit seiner Tante sprach.

„Ein paar Bälle noch, ja?“ sagte er, drehte sich abrupt um und ging wieder auf den Platz.

An diesem Abend hatten sie wenigstens ein Gesprächsthema. Sie sprachen über Tennis, Ausrüstung und Spieler. Die Zeit verflog und erst um halb elf, als die Tante zu Bett gehen wollte, wurde ihm klar, dass er ja noch eine weitere Nacht in diesem schrecklichen Zimmer verbringen musste. Und vermutlich würde das nicht die letzte bleiben.

Vera brachte ihm wieder einen Becher heiße Schokolade. Es gelang ihm aber auch heute nicht, sie noch ein wenig in seinem Zimmer zu halten. Er saß allein auf dem Bett, trank seinen Kakao und legte sich bald schlafen. Heute, nach dem anstrengenden Spiel, war er noch weitaus müder als gestern.


*

Da war es: dieses Geräusch! Schnell sah ich zur Tür. Schon flammte das Licht im Gang draußen auf. Nein, nicht schon wieder. Ich ahnte, was jetzt kommen würde. Aber diesmal ließ ich es nicht so weit kommen. Ich sprang aus dem Bett, noch bevor die Tür geöffnet wurde.

Unterm Bett war ich in Sicherheit. Die Frau würde sehen, dass ich nicht da war und wieder verschwinden.

Ganz still lag ich unter dem Bett. Der aufgewirbelte Staub kitzelte in der Nase. Langsam wurde die Tür geöffnet. Jetzt nur nicht nießen! Ich hielt mir mit der Hand die Nase zu und schaute in den einfallenden Lichtstrahl. Schnell wurde es wieder dunkel. Zwei formlose Fußknöchel standen vor der Bettkante. Dann glitt etwas zu Boden. Der Morgenmantel! Kein Zweifel: Sie war es!

Das Paar Füße bewegte sich um das Bett herum. Sie hatte mich nicht entdeckt. Die Füße verschwanden. Über mir quietschten die Bettfedern. Die Matratze senkte sich herab, bewegte sich heftig wallend hin und her. Ich wendete den Kopf. Vielleicht war sie auf der anderen Seite wieder herausgestiegen. Nein! Sie grinste mir frech und fett ins Gesicht. Ihr Kopf hing vom Bett herab. Sie hatte mich entdeckt. Ich robbte zurück, wollte auf der anderen Seite entkommen. Aber sie war schneller. Ihre Hände griffen zu. Erwischten meinen Kopf. Mit einem sanften Schwampf glitt sie vom Bett, rutschte davor auf dem Boden herum und versuchte, mich am Kopf aus meinem Versteck hervorzuziehen.

Ich stemmte mich an den Bettpfosten ab. Aber es half nichts. Wieder kicherte sie zwischen ihrem obszön stoßartigen Atmen. Ihre Kraft reichte leicht aus, mich unter dem Bett hervorzuziehen. Ich gab einem Impuls folgend plötzlich nach, überraschte sie und schoss aus der Deckung. Sie taumelte einen kurzen Schritt zurück, aber fing sich sofort wieder. Es reichte nicht, um aufzuspringen und aus dem Zimmer zu fliehen. Ich war noch nicht ganz hoch, da hatte sie mir schon beide Arme um die Schulter geschlungen.

„Lass mich in Ruhe!“ keuchte ich außer Atem.

„Ganz ruhig!“ Das war alles, was sie sagte. Wahrscheinlich alles, was sie sagen konnte. Daraufhin hob sie mich ein Stück in Luft und warf mich aufs Bett. Es blieb mir kaum Zeit zu reagieren, da war sie schon über mir. Jetzt hatte ich keine Chance mehr.

Wie gestern Nacht wehrte ich mich verzweifelt, bis ich nicht mehr konnte. Nur diesmal ließ sie nicht nach, als mir die Kraft ausging. Kaum, dass ich mich nicht mehr wehrte, nutzte sie die Zeit und presste mir ihre riesigen, halbvollen Fettsäcke, die ihre Brüste sein sollten, aufs Gesicht, dass mir die Luft weg blieb. Ich begann wieder kraftlos zu strampeln und erst als mir die Luft wirklich drohte auszugehen, gewann ich die Kraft, sie mir ein kleines Stück vom Leib zu halten. Nach diesem letzten Kraftakt brach ich aber gänzlich zusammen. Ich hatte keine Ahnung, was anschließend geschah. Ich bekam auch nicht mehr mit, dass sie wieder ging. Nur ihr spöttisches Gekicher drang noch durch die Haube aus Watte, die mein Hirn umschloss, bevor ich dann hoffnungslos wegdämmerte.


*

Markus hatte zu lange geschlafen. Seine Tante war nach dem Frühstück jemanden besuchen gefahren. Vera bereitete Markus sein Frühstück. Das war ihm auch ganz recht. Er war müde und schämte sich für seine nächtlichen Exzesse. Sich jetzt über Tennis unterhalten zu müssen, wäre eine Qual gewesen.

Irgendwas schien ihn krank gemacht zu haben. Das war alles nicht normal. Markus wusste nicht viel über Träume, aber er wusste, dass sie etwas zu bedeuten hatten. Dass da etwas hinter steckte. Und es hatte etwas mit dem zu tun, was man träumte. Und genau das, beunruhigte Markus. Er wollte nichts mit diesen Träumen zu tun haben. Gar nichts!

Markus blieb allein am Frühstückstisch sitzen. Es hatte einfach keinen Zweck, diesen Dingen auszuweichen. Mühsam zwang er sich darüber nachzudenken.

Wenn er nicht herausbekam, was diese Träume bedeuteten, würde er sie wahrscheinlich niemals loswerden.

Diese Frau, die ihn nachts heimsuchte, kannte er nicht, er hatte sie noch nie gesehen. An so eine hässliche Person hätte er sich bestimmt erinnert. Also musste sie für etwas oder jemanden anderes stehen. Die Träume hatten hier, in diesem Haus angefangen, also musste die Person auch hier sein. Da blieben Vera und die Tante.

Sicher, er mochte Vera vom ersten Moment an, aber warum sollte er sie sich dann so grässlich vorstellen? Sie war hübsch, und er hatte ja auch schon so manches Mal von anderen Mädchen aus der Schule und so geträumt. Allerdings immer anders, nie so intensiv und niemals so direkt. Die hatte er aus Gefahren gerettet und dann geheiratet oder etwas in der Art. Hier lag der Fall aber völlig anders.

Es blieb eigentlich nur eine Möglichkeit. Irgendetwas hatte es mit Tante Elisabeth zu tun. Etwas Unbewusstes! Die Vorstellung, mit Elisabeth solche Dinge zu tun, fand er ausgesprochen unnatürlich.

Das musste es sein! Er hatte es ja oft genug in diesen Fernseh-Psychothrillern gesehen! Das Verbotene hatte seinen unbewussten Reiz auf ihn ausgeübt. Dann hatte er sich diese Träume als Ventil gesucht. Natürlich! Das war wohl die Lösung!

Markus befiel heftige Übelkeit und Magenschmerzen, als er erkannte, auf dem besten Wege zu sein, ein psychopathischer Massenmörder zu werden. Wenn er nichts unternahm, würde er wahrscheinlich bald junge Mädchen und Frauen mit Messern aufschlitzen und ihnen einen symbolträchtigen Pantoffeln in den Mund stecken, als Zeichen seiner Verachtung.

Was war zu tun? Er musste der Tante aus dem Weg gehen. Sonst wäre womöglich schon bald Vera sein erstes Opfer.

Mit irrem Blick starrte er Vera an, die die Blumen auf dem Esstisch austauschte, und umklammert dabei verkrampft das Messer, mit dem er vor kurzem erst ein Brötchen aufgeschnitten hatte.

Vera wusste nicht, was dieser Junge sie so finster anschaute, so als ob er gerade einen zentnerschweren Stuhlgang hinter sich brachte.

„Ist irgendwas?“ fragte sie für ihre Art frech, da sie einen leichten Anflug von Angst in sich aufkeimen spürte.

„Nein, nein, ich bin nur etwas müde“, beeilte sich Markus peinlich berührt zu erklären, weil er sich schon wieder ertappt fühlte.

„Ach so.“ Es klang aber nicht so, als ob sie irgendeinen Zusammenhang zwischen dem Grund ihrer Frage und seiner Antwort herzustellen vermochte. Dann verschwand sie schnell wieder, um die alten Blumen zu entsorgen.

Als seine Tante wiedergekommen war und ihn fragte, ob sie nun eine Runde Tennis spielen wollten, reagierte Markus mürrisch und abweisend. Nein, er wollte lieber in der Bibliothek ein wenig lesen.
„Deine Mutter hat gar nicht erwähnt, dass du ein Bücherwurm bist“, sagte sie freundlich und zeigte ihm, wo die alten Folianten aufbewahrt wurden.

Eigentlich war er das auch nicht, aber hier war der Ort, an dem er seiner Tante aus dem Weg gehen konnte. Schon ihre kurze Anwesenheit ließ in ihm wieder beängstigende Gewaltphantasien aufkeimen.

Ziellos strich sein Blick über die vielen Buchrücken. Sein Blick blieb bei einem Psychologie-Buch hängen. „Therapie – Lust und Frust“.

Für den Bestand dieser Bibliothek war der Titel ziemlich jung. Er ließ die Seiten durch die Hände blättern, las hier und da einen Absatz. Aber es war nur lauter belangloses Zeug, hatte eigentlich nichts mit ihm zu tun.
›Vermeidungsstrategien‹, lautete eine fette, schwarze Überschrift. Das war etwas, das ihn interessierte. Das war es ja, was er wollte. Das Unvermeidliche vermeiden! Er begann zu lesen, und nach nicht ganz einer Stunde hatte er zwei Drittel des Kapitels durch. Alles hatte er nicht verstanden. Aber die Quintessenz war nicht zu überlesen. Vermeidung und Verdrängung verstärkten nur das Problem. Die natürliche Reaktion sich von dem fern zu halten, was einem Angst machte, führte zu paranoiden und psychotischen Zwangsstrukturen. Das klang verdammt danach, dass es einen erst recht krank machte.

Als er darüber nachdachte, stellte er fest, dass er, seit er beschlossen hatte der Tante aus dem Weg zu gehen, eigentlich keinerlei Besserung bemerkt hatte. Vielmehr hatten sich diese Gewaltphantasien eingestellt. Genau! Um das Problem in den Griff zu kriegen, musste er sich seinen unterbewussten Wünschen stellen.

Markus klappte das Buch zu, stellte es weg und suchte im Salon nach der Tante. Ja, sie wollte jetzt gerne eine Runde Tennis spielen, auch wenn das Wetter allmählich schlechter zu werden begann.

Nach drei kurzen Sätzen, die Markus allesamt zu Null in den Sand setzte, saß er mit Elisabeth am Spielplatzrand. Er betrachtete sie heimlich von der Seite, um zu ergründen, was es wohl war, das ihn so an ihr reizte. Aber er fand es einfach nicht heraus.

Doch jetzt, wo er sie ansah und versuchte, ganz ehrlich zu sein, stellte er fest, dass sie wirklich nicht unattraktiv war. Gut, sie war ziemlich alt, aber sportlich und lächelte hübsch. Natürlich bemerkte Elisabeth seinen Blick. Sie war eine ausgesprochen aufmerksame Frau.

„Was schaust du mich so an?“

Markus überlegte. Vielleicht war es sinnvoll, ihr jetzt einfach seine Liebe zu gestehen. Aber auf der anderen Seite wäre das ja auch irgendwie eine Lüge. Er glaubte ja nicht wirklich daran.

„Nur so“, sagte er knapp und wendete sich wieder dem Handtuch zu, um sich das Gesicht damit abzutrocknen.

Elisabeth lächelte still vor sich hin. Markus ärgerte sich, dass sie andauernd seine Gedanken zu erraten schien.

„Im Keller haben wir eine Sauna, willst du eine kleine Schwitzkur machen, vielleicht schläfst du danach besser.“

„Sie weiß alles“, schoss es Markus durch den Kopf. „Sie kennt auch meine Träume.“

„Nein, danke“, antwortete er schnell. Die Vorstellung, jetzt mit ihr nackt in eine kleine, heiße Kammer eingesperrt zu sein, erschreckte ihn über alle Maßen.

„Na dann nicht. Ist aber gesund!“ sagte sie und stand auf. „Ich geh rein, es ist doch noch reichlich kalt im April.“

Gnadenlos brach irgendwann wieder die Nacht herein. Und mit der Dunkelheit kam Vera, der letzte sichere Fels in der Brandung der Gefühle, die gleich, wenn sie wieder gegangen wäre, über ihn hereinbrechen würde. Markus musste mit ihr reden. Er musste endlich jemandem erzählen, was mit ihm los war.

„Vera“, sagte er, als sie den Becher auf seinem Nachttisch abgestellt hatte.

„Ja.“ Sie sah ihn aufmunternd an. Und sie war so hübsch.

Markus sollte jetzt sagen, dass er Angst hatte. Angst vor seinen Träumen, seinen Gedanken, vor allem, was in der Nacht geschehen konnte. Er sah Vera an. Er wollte ihr gegenüber nicht wie ein kleines Kind dastehen. Schließlich war er beinahe erwachsen. Wenn er ihr aber erzählen könnte, was er träumte, würde sie ihn bestimmt verstehen. Wie sollte er das nur ausdrücken? Niemals käme das über seine Lippen. Es war viel zu peinlich.

„Soll ich dir noch etwas bringen?“ In der Frage war keine Spur von Ungeduld. Bestimmt konnte er ihr vertrauen. Er sollte ihr wirklich alles erzählen. Markus schüttelte den Kopf.

„Was denn?“ fragte sie weiter.

Jetzt war wirklich die letzte Chance, sonst würde sie gehen, und er bliebe mit seinen hässlichen Träumen allein.

Aber er brachte es einfach nicht heraus. Gequält formulierte er wenigstens ein Resümee: „Die Pubertät ist echt scheiße!“

Vera lachte schrill auf und Markus wunderte sich über sich selbst.

„Das ist wahr“, sagte sie immer noch lächelnd und verstand den Satz auf ihre Art. Ein Schritt, dann war sie bei ihm, nahm seinen Kopf in beide Hände und küsste ihn zärtlicher, als es seine Mutter je getan hatte, auf die Stirn.

„Schlaf gut und träum süß“, hauchte sie. „Das geht alles vorbei.“ Immer noch lächelnd schwebte sie zur Tür hinaus.

Schon war sie weg! Die Angst blieb auch weg. Der Kuss hatte ihm gut getan. Ein klares Signal von Normalität. Genüsslich schlürfte er seinen Kakao und beschloss, in dieser Nacht lieber von Vera zu träumen. Und zwar so, wie es richtig war.


*

Es war schon klar, dass es nicht Vera war, die da über den Flur kam. Es war wie jede Nacht, und ich wusste, dass ›sie‹ es sein würde. Unters Bett hatte keinen Zweck. Im Schrank war Blödsinn. Hinter die Tür! Vielleicht kam ich dann an ihr vorbei hinaus auf den Flur! Und da? Egal, heute würde ich ihr entwischen. Die Tür wurde geöffnet. Sie kam herein. Als sie am Bett war und ihren Mantel fallen gelassen hatte, löste ich mich von der Tür, öffnete sie und war mit einem Sprung draußen. Natürlich hatte sie mich bemerkt.

Sie versuchte mich zu erwischen. Doch diesmal war ich vorbereitet. Ich musste außer Reichweite bleiben, sonst hatte ich keine Chance. Ich lief den erleuchteten Flur entlang. Sie war dicht hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah ich ihr prustendes Gesicht. Ihr Fett, das um den ganzen Körper herumschwappte. Ihre Beine, die bei jedem Schritt in sich bebten wie ein Wackelpeter, dem man unter Starkstrom gesetzt hatte.

Zur Hölle, wie komme ich dazu, mir so etwas auszudenken? Ich rannte die Treppe hinunter. Stolperte über die vorletzte Stufe, rollte mich ab, verlor aber mächtig an Distanz. Dann tat sie das, was ich nicht für möglich gehalten hatte. Sie sprang! Als sie auf mir landete, war ich sicher, dass alle Knochen gebrochen waren.

„Psst. Ganz ruhig“, prustete sie. Schon hatte sie mich umgedreht, sich auf meinen Brustkorb gesetzt und ihre Beinstämme auf meinen Armen platziert. Ich dachte: „Die wirst du nie wieder bewegen können.“ So taub waren die nach wenigen Sekunden.

Ich schrie gegen den Schmerz an, aber sie sagte: „Psst. Ganz ruhig.“ Dann rutschte sie ein Stück nach vorn, hatte beide Hände frei und begann mich in den Seiten zu kitzeln. Ich keuchte und versuchte zu schreien, wand mich, bäumte mich auf, trampelte mit den Füßen auf den Steinfußboden. Aber sie hörte nicht auf, mich zu kitzeln und „Psst“ zu sagen. Wozu? Sie lachte ja lauter, als ich schreien konnte. Diesmal hatte ich eigentlich Glück, denn das Kitzeln hielt ich nicht sehr lange aus und wurde wohl ohnmächtig.


*

„Mein Gott, heute siehst ja noch schlechter aus als gestern!“ begrüßte mich Tante Elisabeth zum Frühstück. „Was ist los mit dir? Schläfst du schlecht?“

„Ich nicht gut einschlafen“, erklärte Markus, der selbst nicht verstand, was mit ihm los war. Er hatte tiefe Ränder unter den Augen und wirkte ziemlich durcheinander.

„Trinkst du deinen Kakao denn nicht?“

„Doch natürlich. Wahrscheinlich ist es einfach die ungewohnte Umgebung. Ich weiß es nicht.“

„Ich glaube es ist besser, wenn wir heute mal auf das Spielen verzichten. Das Wetter ist auch nicht unbedingt danach. Vielleicht gehen wir einfach mal einkaufen. Ist die letzte Gelegenheit, bevor du wieder nach Hause fährst. Du sollst ja auch die Stadt mal kennenlernen.“

Markus war im Moment alles egal. Eigentlich wollte er nur ohne diese Träume schlafen.

Sie durchquerten dreimal die ganze Einkaufspassage, was aber nicht sonderlich viel Aufwand war, wenn man sich in der Hamburger City zu Hause fühlte. Es gab fast alles, was man brauchte. Markus erstand zwei CDs, die in Hamburg schon seit langem aus den Regalen verschwunden waren.

„Heute gehst du aber mit in die Sauna“, sagte Elisabeth, als sie wieder daheim waren. „Sollst mal sehen, wie gut du danach schlafen kannst.“

Die Aussicht gut schlafen zu können war vielversprechend. Aber er wollte trotzdem nicht mit in die Sauna.

„Kannst ja eine Badehose anziehen, wenn es dir peinlich ist.“

„Das ist mir nicht peinlich“, entrüstete sich Markus und log, nicht ohne rot zu werden.

„Wie du willst. Jedenfalls gehst du heute in die Sauna“, behauptete Elisabeth bestimmt.

Wie kam sie dazu, ihm so was vorzuschreiben? Er wollte protestieren, aber sie kam ihm zuvor.

„Keine Widerrede!“ Und damit war der Fall für sie erledigt.

Die Sauna war im Keller, daneben ein eiskaltes Tauchbecken und zwei Duschen mit einem Wasserschlauch. In einem kleinen Nebenraum standen vier Liegen.

Markus blieb ganz unten sitzen, er vertrug diese feuchte Hitze einfach nicht.

Elisabeth lag langgestreckt ganz oben und in der mittleren Etage hockte Vera. Niemand hatte Markus gesagt, dass auch sie mit in die Sauna gehen würde.

Vorsorglich behielt Markus deshalb sein Handtuch auf dem Schoß. Er war froh, dass hier wenigstens nicht gesprochen wurde, aber immer wenn ein Saunagang zu Ende war, und die beiden nackten Frauen duschten, wusste er kaum, wo er hinschauen sollte.

Er selbst duschte immer erst, wenn die beiden schon in den Ruheraum abgewandert waren. Das kalte Wasser verhinderte Gott sei Dank eine mögliche Erektion. Wenn man erst mal auf der Liege entspannte, fühlte man sich tatsächlich richtig gut. Aber das ganze drum herum … Es war trotzdem das letzte Mal, dass er so etwas mitmachte.

Beim dritten Gang war Vera dann nicht mehr dabei. Markus war einerseits erleichtert, andererseits fühlte er sich allein mit Elisabeth in der Sauna noch unwohler. Zumal er keine Chance sah, das gemeinsame Duschen mit einer akzeptablen Ausrede verhindern zu können.

Unter dem Wasserstrahl versuchte er eine möglichst lockere Figur zu machen, aber das misslang gründlich. Und Elisabeth lachte leise, als sie registrierte, wie Markus sich immer wieder geschickt von ihr wegdrehte.
Markus war genervt. Na gut, wenn sie es unbedingt sehen wollte, bitte! Demonstrativ drehte er sich zu ihr um und wusste, wie lächerlich das wirken musste. Gerade ließ sie sich das Wasser ins Gesicht brausen, sah aber aus den Augenwinkeln aufmerksam hin.

Und wie sie hinstarrte, so eindringlich, dass er sich unmöglich wieder zurückwenden konnte. Markus stand hilflos da und spürte, wie ihr aufdringlicher Blick in ihm genau das regte, was er unbedingt vermeiden wollte. Wie sie das Wasser der Dusche durch den halboffenen Mund fließen ließ! Wenn er sich jetzt nicht wegdrehte, dann …

Zu spät. Bevor sich die potentielle Erektion ernsthaft zeigen konnte, spuckte Elisabet die volle Wasserladung genau dorthin. Markus schrie auf und sprang zurück.

Elisabeth lachte laut auf: „Stell dich nicht so an.“ Sie drehte ihre Dusche ab und ging immer noch lachend hinüber in den Ruheraum. Von dieser Unverschämtheit mal abgesehen, war Markus froh, als er den Bademantel anhatte und es sich auf der Liege bequem machen konnte.

Elisabeth lachte immer noch. Sie drehte sich zu ihm um und sagte: „Wundert mich eigentlich, dass deine Mutter dich allein zu mir lässt.“

„Wieso“, fragte Markus zurück.

„Na, wahrscheinlich hat sie sich gedacht, dass du tabu bist“, fuhr sie fort, ohne auf seine Frage einzugehen. „Oder sie hat ihre Meinung über mich gründlich geändert. – Hat sie dir eigentlich erzählt, warum sie mir damals die Gans an den Kopf geworfen hat?“

„Es war nur die Keule“, korrigierte Markus sie. „Und ihr habt euch gestritten.“

„Aber warum, das hat sie dir nicht erzählt?“

„Nein.“

„Willst du es wissen?“

Markus überlegte kurz. „Warum nicht?“

„Tja, deine Mutter war mit meinem damaligen Liebhaber nicht einverstanden. Hat sie dir nie erzählt, was?“

„„Nein.“ Markus beschlich gerade eine Ahnung, dass womöglich sein Vater dieser Liebhaber gewesen war. Warum sollte sich seine Mutter sonst so aufregen?

„Der Junge war 17. Etwas älter als du jetzt. Das fand sie unmoralisch. Es gab ordentlich Streit. Und beim Essen hat sie mich dann eine Kinderschänderin genannt.“

„Und?“

„Und ich hab ›bürgerliche Schlampe‹ zu ihr rüber gerufen. Schon kam die Gans angeflogen. Das war alles.“ Sie schüttelte lachend den Kopf. „Lächerlich, nicht wahr? Und deshalb zehn Jahre kein Wort mehr. – Einfach lächerlich …“

Markus antwortete auf diese Pseudofrage nicht. Seine Gedanken kreisten um zwei Dinge. Das eine war die Möglichkeit, dass Elisabeth sich durch ihn an seiner Mutter rächen wollte. Das andere war die Tatsache, dass sie ihn heute Morgen nach dem Kakao gefragt hatte. „Trinkst du denn deinen Kakao nicht?“

Natürlich, sie schüttete ihm da irgendeine Droge, einen Liebestrank oder so etwas in den Kakao. Das war es, was ihn so krank machte. Er durfte den Kakao heute Abend nicht trinken. Auf gar keinen Fall!


*

Vera stellte den Becher wie immer auf den kleinen Tisch und wünschte eine gute Nacht. Markus brachte ihn geradewegs ins Badezimmer und schüttete ihn ins Klo. Schluss mit diesen Alpträumen. Beruhigt ging er ins Bett und es dauerte nicht lange, bis er einschlief.

Das Licht unter der Tür verriet Markus, dass sie kam. Er setzte sich aufrecht ins Bett. Sie konnte ihm heute nichts anhaben, denn er hatte den Kakao nicht getrunken. Keine Chance! Von jetzt an kontrollierte er diese Träume! Und niemand sonst. Die Tür wurde langsam geöffnet. Markus wartete angespannt. Da war sie! Sie kam bis dicht an sein Bett. Blieb stehen und beobachtete ihn. Ihr Gesicht zeigte Erstaunen. Sie hatte wohl nicht erwartet, dass er so hier einfach sitzen blieb. Er spürte seinen Vorteil aufkeimen.

„Versuch ruhig mich anzufassen! Du wirst schon sehen …“

Da war wieder ihr Lachen, sie beugte sich vor, und er schlug ihr mit der Faust ins Gesicht. Damit hatte sie nicht ganz offensichtlich gerechnet.

„Na komm! Versuchs doch!“ Er begann laut zu lachen. Lachte so laut er konnte. Auch ihr blödes: „Psst“ konnte Ihr jetzt nicht mehr helfen. Er lachte nur noch lauter. Und dann geschah das Unglaubliche. Sie lief aus seinem Zimmer. Sie flüchtete! Er hatte gesiegt!


*

Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, ging die Tür erneut auf. Sie kam zurück, hatte wohl noch nicht genug. Doch diesmal zeigte sie ihr wahres Gesicht. Endlich sah sie auch aus wie seine Tante Elisabeth.
„Was schreist du so? Was ist?“

„Ich hab immer gewusst, dass du es warst!“ rief Markus.

„Was war?“ fragte sie und tat, als wenn sie von nichts wusste.

„Fass mich ja nicht an!“ schrie er seine Tante an.

„Ich denke ja gar nicht dran!“

„Was willst du von mir?“

„Nichts, du hast so geschrien. Ich dachte, es wäre was passiert.“

„Das weißt du doch ganz genau.“

„Nichts weiß ich. Hör zu, wahrscheinlich hast du schlecht geträumt. Versuch dich zu beruhigen und schlaf wieder ein, ja?“

„Genau. Ich habe nur schlecht geträumt.“

„Ich lass dich jetzt allein, in Ordnung?“

Ja, das war in Ordnung. Sie hatte ihre Maske verloren, ihre Macht. Jetzt ging es nur darum, das Gesicht zu wahren. Alles war in Ordnung, wenn sie nur ging. Und sie ging. Markus sah, wie das Licht unter dem Türspalt wieder erlosch. Jetzt hatte er endlich wieder seine Ruhe.


*

Tatsächlich erwachte Markus an diesem Morgen einigermaßen ausgeruht. Er war froh, dass nun alles vorbei war. Wie sollte er seiner Tante heute gegenüber treten? Jetzt, wo er sie überführt hatte. Er nahm sich vor, die ganze Angelegenheit einfach zu vergessen, wenn sie ihn von nun an in Ruhe ließ.

Markus war viel zu glücklich darüber, dass nicht er es war, der krank war, sondern seine Tante. Außerdem, warum sollte er sich schämen, er hatte nichts getan? Sie war es, die sich gefälligst schämen sollte!

Heute Morgen war Tante Elisabeth früher aufgestanden als sonst. Sie saß schon im Esszimmer, aber Vera deckte gerade erst den Tisch.

„Na mein Liebling, hast du dich wieder beruhigt?“ fragte Elisabeth ihn, kaum, dass er sich gesetzt hatte. „Das muss ja ein furchtbarer Traum gewesen sein, gestern Nacht.“

„Ach ja?“ fragte Markus höhnisch. Er konnte es einfach nicht fassen, dass seine Tante dieses Thema anschnitt.

„Deinem Schreien nach zu urteilen, ein echter Horrortrip“, fügte Vera hinzu, die sonst nicht die Angewohnheit hatte, sich in Gespräche einzumischen. Und überhaupt, wieso hatte sie ihn gestern Nacht gehört und die anderen Nächte, in denen er sich fast die Seele aus dem Leib geschrien hatte, nicht.

„Na ja, ist ja jetzt alles gut und vergessen“, sagte Elisabeth und wendete sich ihrer Zeitung zu.

„So ist das mit Träumen. Am nächsten Morgen sind sie verflogen. Meist weiß man gar nicht mehr, worum es überhaupt ging.“

Markus hörte den beiden sprachlos zu. Er wusste noch allzu gut, worum es ging. Wahrscheinlich war das so etwas wie eine codierte Botschaft. Sollte wohl so viel bedeuten wie: „er solle einfach alles vergessen“ und fertig. Das war ganz in seinem Sinne. Richtig! Er wollte alles vergessen. Aber das musste er sich nicht gerade von den beiden Frauen sagen lassen.

Und überhaupt, er hatte plötzlich das Gefühl, dass diese Vera mit Elisabeth unter einer Decke steckte. Er war sich gar nicht mehr so sicher, dass er die Sache wirklich im Griff hatte. Wenn er sich in diesem Haus auf niemanden verlassen konnte, war er den beiden auch weiterhin hilflos ausgeliefert. Am besten, er nahm vorsorglich gar keine Getränke mehr zu sich.

Drei Tage lang? Unsinn, er würde aus dem Wasserhahn und nur auch aus geschlossenen Flaschen trinken.

Aber was, wenn sie sich jetzt, wo er alles wusste, nicht mehr damit begnügen würden, ihm böse Träume zu bereiten, sondern wirklich über ihn herfallen würden? Es wäre ein leichtes; in der Sauna zum Beispiel. Blödsinn, da ging er eh nicht mehr rein. Und sonst? Einfach weg konnte er hier nicht weg. Keiner würde ihm helfen. Er musste Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um sich vor möglichen Überfällen zu schützen.

„Vielleicht fahre ich doch etwas früher“, erwähnte er beiläufig.

„Unfug“, sagte Elisabeth und legte die Zeitung beiseite. „Jeder träumt mal schlecht. Außerdem sind wir doch noch kaum zum Tennisspielen gekommen.“

Markus ahnte, dass weiteres Reden wenig Sinn hatte. Er ahnte auch, warum sie ihn keinesfalls weglassen würden. Wenn sie es nicht schafften, ihm wieder etwas in ein Getränk oder ins Essen zu mischen, dann kämen sie wahrscheinlich heute Nacht alle beide vorbei. Dann würden sie Dinge mit ihm tun, von denen er selbst nicht mehr genau wusste, ob er sie wollte oder besser nicht. Was er brauchte war ein Plan. Auf diese Nacht musste er sich gründlich vorbereiten.

„Hör mal, Markus. Heute ist ja Ostern. Nach dem Frühstück solltest du mal auf Eiersuche gehen.“

„In meinem Alter suche ich doch keine Ostereier mehr!“ empörte er sich.

„Nun, es ist nicht direkt ein Ei. Es ist etwa so groß“, Elisabeth zeigte mit den Armen die Länge eines knappen Meters, „und ist schön bunt verpackt. Es wird dir gefallen. Da bin ich sicher.“

„Und wo soll ich suchen?“ fragte Markus lustlos.

Immer, wenn seine Tante etwas sagte, hatte er das Gefühl, dass sich jeder Widerspruch irgendwie erübrigte.

„Überall.“ Sie deutete grinsend, mit einer allumfassenden Geste, um sich herum. „Im ganzen Haus. Nicht draußen, da ist es noch zu feucht. Da wäre das Papier aufgeweicht.“


Kurz nach dem Frühstück begann Markus mit der Suche. Erst begann er sporadisch in einzelnen Räumen zu suchen. Erfolglos. Dann erwachte sein Ehrgeiz. Er begann systematisch jedes Zimmer von oben nach unten abzusuchen. Und es waren unglaublich viele Zimmer. Allein der Westflügel des Hauses, den ausschließlich seine Tante bewohnte, hatte zwölf Zimmer. Viele der Räume wurden gar nicht genutzt und waren mit Leinentüchern abgedeckt. Was er auch suchte, es konnte überall darunter sein. Im zweiten Stock traf er Vera. Die lächelte ihn an oder aus und rief ihm zu: „Ganz kalt.“

Er zeigte mit dem Finger nach unten. „Wärmer.“

Also im Erdgeschoß. Oder im Keller! Vergessen war die drohende Gefahr. Er hastete die Treppen hinab, was natürlich sinnlos war, da niemand sonst versuchte, das Ostergeschenk zu finden. Also brauchte er sich eigentlich nicht beeilen.

Hinter der Treppe in die Obergeschosse befand sich der Abstieg zum Keller. Dort war er während seines ganzen Aufenthalts noch nicht einmal gewesen. Sicher hatten sie gedacht, dort würde er es nie finden. Oder sich dort nicht hin trauen.

Der Keller war gar kein richtiger Keller. Die hinteren Räume lagen zu ebener Erde, weil das Haus auf die Kuppe eines leichten Abhangs gebaut war. Die gesamte Etage war gut ausgebaut. Am Ende des Ganges sah er eine Doppelschwingtür mit Milchglasscheiben.

Dahinter musste die Küche liegen. Markus hörte Geschirrklappern. Das musste Vera sein. Wie war die so schnell hierunter gekommen? Wahrscheinlich mit dem Lastenaufzug.

Markus lief auf die Küche zu. Vera würde ihm sicher sagen, ob es hier heiß, wärmer oder schon wieder kälter war.

Markus schwang beide Flügeltüren gleichzeitig auf und stürmte in die Küche. Vera stand an dem großen Küchentisch in der Mitte des Raumes und schälte wohl Kartoffeln. Nein! Das war nicht Vera!

Das war …! Die hässliche, fette Frau. Wie war das möglich? Es war helllichter Tag! Er hatte noch nichts getrunken, keinen Kakao, keinen Tee, nichts!

Die Frau ließ das Kartoffelmesser sinken und grinste ihn böse an. Ihr Gesicht zeigt eine bläuliche Verfärbung, genau dort, wo Markus ihr gestern einen Schlag verpasst hatte.

„Das ist nicht wahr!“ dachte er und schrie: „Nein! Noch nicht. Ich bin noch nicht bereit.“

Dann rannte er los. Den Gang zurück. Hinauf in sein Zimmer. Er musste sich einschließen. Dort war er vielleicht sicher. Vor der Treppe kam ihm Vera entgegen. Sie sah ihn und breitete die Arme aus, um ihn aufzuhalten. Die Fette war sicher unmittelbar hinter ihm. Eine Falle. Diese ganze verdammte Suche war eine Falle!

Doch Vera kriegte ihn nicht zu fassen. Er schubste sie gegen die Wand und lief problemlos an ihr vorbei.

Die Treppe hatte er mit vier kräftigen Sätzen überwunden. Doch oben in der Halle stand schon die Fette. Nein! Jetzt hatte sie wieder die Gestalt seiner Tante. Wie machte sie das? War die Wirkung der Droge schon wieder abgeklungen?

„Was ist los?“ schrie Elisabeth Markus an, der wie angewurzelt auf dem oberen Treppenabsatz stehen geblieben war. „Was zum Teufel schreist du hier so rum. – Vera!“

Vera stand schon keuchend hinter ihm. „Ich weiß nicht, was er hat. Er kam schon hysterisch schreiend aus der Küche.“

„Vielleicht hat Anna ihn erschreckt.“

Die beiden Frauen sahen sich an, dann Markus.

„Welche Anna?“ stammelte er völlig von der Rolle.

„Anna eben. Unsere Köchin.“

„Die Frau in der Küche“, setzte Vera zur Erklärung hinzu.

„Anna?!“ stammelte Markus, der begriff, dass dies die Situation völlig veränderte.

Seine Theorie musste er jetzt wohl über den Haufen werfen. Es gab da noch eine Anna. Er hatte sie vorher nie gesehen. Aber in seinen Träumen! Und sie hatte ein blaues Auge. Sie musste also in seinem Zimmer gewesen sein.

Das veränderte die Situation nun wirklich völlig. Er war sich zwar nicht ganz sicher, aber wenn das, was er vermutete, wahr war, musste er … Er machte die paar Schritte bis zur Gästetoilette neben dem Eingang zum Esszimmer und übergab sich heftig in Kloschüssel.

„Was ist mit dir los? Bist krank?“ fragte seine Tante, die hinter ihn geeilt war und seine Schultern zurückhielt.

Markus war nicht nach Reden zumute. Schon gar nicht wollte er irgendwelche Erklärungen oder Vermutungen abgeben. Das hier wollte er ganz schnell vergessen.

„Warum erschreckt dich Anna so? Sag mir jetzt bitte was los ist!“ Elisabeths Stimme klang verändert, weich und sorgenvoll. Sie wusste nicht, was vor sich ging. Das war sie nicht gewohnt. Schlimmer noch: Irgendetwas an der Sache war entschieden kein Spaß mehr. Da war etwas geschehen und sie spürte, dass es nichts Gutes war.

„Ich werde mal mit Anna reden. Vielleicht kann sie mir sagen, was passiert ist.“

„Nein!“ Markus wischte sich die Kotzebröckchen aus der Nase, sein Hals fühlte sich wund an. „Es ist in Ordnung. Es war nur der Kakao. Ich fürchte, der ist mir nicht bekommen.“

Keinesfalls wollte Markus, dass jemals jemand etwas über diese Geschichte erfuhr.

„Wenn der Kakao schlecht war, werde ich sie erst recht zur Rede stellen“, sagte Elisabeth mit dem energischen Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. Doch diesmal gab Markus nicht nach: „Nein, das ist wirklich nicht nötig. Es lag an mir, ich vertrage so viel Zucker nicht. Ich muss einfach darauf verzichten, dann ist alles in Ordnung.“

„Bist du Diabetiker? – Warum hast du das denn nicht gesagt?“

„Nicht direkt Diabetiker. Ich vertrage nur allzu viel Zucker nicht. Mehr eine Art Allergie.“

Das waren dermaßen dumme Lügen, dass Markus nicht im Ernst erwarten konnte, dass sie ihm das abnahm. Aber seine Hartnäckigkeit reichte, um sie von einem weiteren Drängen abzubringen.
„Vera, sag Anna bitte, dass Markus heute Abend keinen Kakao kriegt. Und bring das Geschenk mit, wenn du schon mal da unten bist.“

Den Rest des Tages verbrachten Markus und Elisabeth auf dem Tennisplatz, wo sie mit leichten Grundlinienschlägen Markus neuen Schläger einspielten. Die ganze Zeit über bemerkte Markus, wie ihn Elisabeth argwöhnisch beobachtete. Aber es war ihm egal. Er wusste, dass sie wusste, dass da etwas war, worüber er nicht sprechen wollte. Und genau dabei sollte es bleiben.

Heute Abend brachte ihm Vera keinen Kakao aufs Zimmer. Trotzdem schaute sie kurz herein und wünschte ihm eine gute Nacht. Bevor sie die Tür wieder schloss, sagte sie: „Wenn ich dir helfen kann, bin ich jederzeit für dich da. Und wenn was ist: Ruf einfach laut meinen Namen. Ich bin in der Nähe.“

„Das mach ich. Danke.“

Markus war dankbar für jede Hilfe. Aber er war sicher, dass die Angelegenheit erledigt war und die peinlichen Einzelheiten gingen niemanden etwas an.


*

Da war das Geräusch doch schon wieder. Unmöglich, das konnte nicht sein. Markus hatte keinen Kakao. Heute nicht. Sie würde es doch wohl nicht wagen, trotz allem, was vorgefallen war, noch einmal zu kommen. Ganz sicher nicht! Er wusste doch jetzt, wer sie war. Er konnte mich wehren und schlief nicht. Vielleicht war da etwas in dem Tee, zum Abendbrot. Den hatte er ja getrunken. Verdammt, was war jetzt schon wieder los …


*

Markus war von dem Lärm auf dem Flur aufgewacht. Irgendetwas ging da draußen vor. Da waren Stimmen, die laut miteinander stritten. Ja, es waren Vera und seine Tante und noch eine dritte Person. Er hörte nur Gesprächsfetzen, aber er erstarrte und wusste augenblicklich, wer diese dritte Person war. Sie hatte es wohl wieder versucht. Aber Elisabeth und Vera hatten auf ihn Acht gegeben.

Das hieß aber auch, dass sie nun Bescheid wussten. Markus wollte unter seine Decke rutschen und sich verstecken. Er könnte den beiden nicht wieder in die Augen sehen. Doch er versteckte sich nicht, sondern lauschte angestrengt.

„Du bist doch wohl total beknackt. Kannst du mir mal erklären, was ich meiner Schwester sagen soll, was hier mit ihrem Sohn passiert ist? Was mein Personal mit ihm angestellt hat. Mal ganz abgesehen davon, was du dem Jungen damit angetan hast!“

Ein schriller Aufschrei unterbrach Elisabeths Ansprache. Noch ein spitzer Aufschrei. „Na warte …“

„Hör auf sie zu schlagen, Vera. Das hilft auch … Halt! Anna bleib stehen! Ich spreche mit dir!“

Auf dem Gang war jetzt nur noch Getrampel zu hören und Stimmen sie sich rasch entfernten. Dann war Ruhe. Erst empfand Markus das als angenehm. Dann keimte Angst in ihm auf. Was, wenn Anna sich gegen seine Verteidiger durchsetzte und sie besiegte? Was, wenn sie dann wiederkam?

Markus sprang aus dem Bett, er musste wissen, was da vorging. Vielleicht war seine Hilfe nötig. Dieser Frau war alles zuzutrauen.

Markus hastete die Kellertreppe hinunter. Er wusste, dass sie alle in der Küche sein mussten. Von weitem hörte er Geschirr zu Boden klirren. Dann war wieder Ruhe. Markus war jetzt unmittelbar an der Küchentür.

Erleichtert hörte er Veras Stimme. Dann Elisabeths: „Verdammt! Was sollte ich machen? Sie hatte ein Messer. Schöne Scheiße, das alles.“

„Was machen wir jetzt mit ihr?“ fragte Vera.

Wieder war es einige Zeit still und Markus lauschte umso angestrengter.

„Hier, das wird gehen. Damit kommen wir vielleicht durch!“

„Du meinst, weil sie …“

„Sicher, dafür gibt es jede Menge Zeugen, und dann existieren bestimmt auch Krankenakten.“

In Küche wurden schwere Gegenstände oder Möbel hin und her geschoben.

„Das hat sie aber auch wirklich verdient!“ Vera schnaufte, als ob sie Schwerstarbeit leistete.

„Ich darf gar nicht daran denken, was sie mit dem Jungen angestellt hat. – Wie hat sie es bloß geschafft, dass wir davon nichts mitbekommen haben?“

„Hiermit!“ rief Vera. „Das hat sie gegen ihre Depressionen verschrieben gekriegt. Ein Hammer, die war immer völlig groggy, wenn sie das Zeug genommen hat. Dann hat sie nur noch vor sich hin gebrabbelt. Wahrscheinlich hat sie es in seinen Kakao geschüttet. – Und ich hab ihm den auch noch jeden Abend nach oben gebracht.“

„Meinst du Markus hat vielleicht gar nichts davon mitgekriegt?“

„Nicht wirklich jedenfalls. Aber irgendwas muss er mitgekriegt haben, sonst hätte er nicht solche Angst vor ihr gehabt.“

„Also hatte er nur so eine Ahnung, ja“, stellte seine Tante fast flehentlich fest.

„Der ist doch nicht blöd, der wird sich das schon zusammenreimen.“

„Und das bei meinem guten Verhältnis zu meiner Schwester, na danke!“

„Was machen wir hiermit?“

„Zieh es aus, das wirkt irgendwie echter.“

Markus hielt es hinter der Tür nicht mehr aus. Langsam schob er die Flügel auseinander. Splitternackt hingen 140 Kilo Anna leicht schwingend von der Decke herab. Ihr bläuliches schimmerndes Gesicht, das verreckte Grinsen, die Zunge die sich daraus hervorwand, wie eine Babyschlange, riefen in Markus wieder dieses grässliche Lachen wach. Unwillkürlich hielt er sich die Ohren zu. Neben dem schwingenden Leichnam standen Vera und Elisabeth und begutachteten ihr Werk. Dann entdeckten sie Markus. Irgendwie war es ihm keine wirkliche Befriedigung, den toten Fettkloß dort baumeln zu sehen.

„Ich bring ihn hier raus!“ rief Elisabeth und war mit zwei Schritten bei ihm. Schon schob sie Markus bestimmt wieder zurück durch die Tür und versperrte ihm mit ihrem Körper die Sicht.

„Schau da nicht hin. Ist schrecklich.“ Und zu Vera: „Räum erst mal auf und mach die Scherben weg, bevor du die Polizei rufst, ja?“

Sie wartete die Antwort nicht ab, weil sie wusste, dass Vera da auch von selbst dran gedacht hätte.

Elisabeth saß neben Markus auf dem Bett und strich ihm sanft über den Kopf.

„Schlaf jetzt wieder ein. Das alles war nur ein böser Traum, nur ein böser kleiner Sukkubus, weiter nichts. Nichts von Bedeutung. Schlaf ruhig ein. Ich bleibe hier und passe auf dich auf. Das wird ganz sicher nie wieder passieren!“

Sicher würde das nicht wieder passieren, aber etwas in Markus Kopf war verändert. Diese Träume …


*

Ich wusste, dass sie Recht hatte. Die fette Frau war tot. Aber die Träume! Die Träume werde ich mein Leben lang nicht los, nicht wahr? Sie bleiben, bleiben in meinem Kopf für immer … Antworte mir! Doch Elisabeth antwortete nicht. Sie sah mich nur an. Sah mich komisch an. Längst hatte ich die Hand entdeckt, die da so beiläufig an dem Blusenknopf nestelte. Ich würde mich zur Wehr setzten, bestimmt! Immer wieder würde ich ihnen entwischen können oder etwa nicht? Wer weiß? Jedenfalls wusste ich längst, was da kommen würde. Ich war vorbereitet. So einen Sukkubus wurde man sein Lebtag nicht …


Nur ein kleiner Sukkubus (20) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2007. Alle Rechte vorbehalten.