Und ab dafür!

Kurzkrimi

Dieser Job war einfach nichts für Johannes. Ewig diese Angst. Und ewig dieses schlechte Essen im Zugrestaurant. Hamburg – München, München – Hamburg. Und das zweimal die Woche. Warum hatte er sich nicht einen besseren Job gesucht? Vor allem einen, den man kündigen konnte, wenn man die Nase voll hatte. Aber es musste ja das schnelle Geld sein. Drogenkurier! Nie wieder. Er hätte besser Privatdetektiv bleiben sollen. Das war eigentlich schon ganz okay gewesen. Und hätten sie ihm nicht damals die Lizenz entzogen, alles wäre so geblieben wie es war. Jetzt musste er dankbar sein, überhaupt noch Arbeit zu finden. Wenn er nicht als Pförtner sauber bleiben wollte, musste er eben die Seite wechseln.

Eine weitere Besonderheit an diesem Job war, dass Johannes keinen Fehler machen durfte. Jeder Fehler konnte den Tod bedeuten. Seine Auftraggeber hatten zwar vollstes Vertrauen zu ihm, sonst würden sie ihn wohl kaum allein mit einem Aktenkoffer voller Koks durch das Land reisen lassen. Johannes glaubte jedenfalls, dass es Kokain war. Er hatte noch nie einen Blick in den Koffer geworfen. Er holte ihn in München verschlossen und versiegelt ab und übergab ihn am Hamburger Bahnhof dem Fahrer seines Auftraggebers. Wenn er länger darüber nachdachte, wunderte es ihn doch, dass man bei solchen Summen – er schätzte den Wert des Inhalts auf vielleicht eine halbe Million – ohne Unterschrift, Lieferschein, eben ohne alles Schriftliche auskam. Das System funktionierte. Es hatte in den letzten zwei Jahren niemals Ärger gegeben.

Der ICE fuhr langsam in den Hamburger Hauptbahnhof ein. Johannes zog seine Jacke über und goss den letzten Schluck des lauwarmen DSG Kaffees hinunter.

„Auf Wiedersehen, Herr Bruchmüller“, rief die Bedienung ihm hinterher, als Johannes sich Richtung Restaurantausgang bewegte. Das war natürlich nicht sein richtiger Name, der ging nun wirklich keinen hier etwas an. Doch man fragte ihn natürlich danach, denn inzwischen kannte er alle Schaffner und DSG-Angestellten in diesem Zug. Nach zwei Jahren – wen wundert’s?

In dem Getümmel auf dem Bahnsteig bekam Johannes regelmäßig Platzangst. Er mied die überfüllte Rolltreppe und nahm die normalen Stufen. Noch 150 Meter und er konnte nach Hause und sich endlich ins Bett legen. Zwei Tage, dann würde es wieder losgehen. Plötzlich riss etwas heftig an seinem Arm.

Das war der Koffer! Ein etwas verwahrloster junger Mann hatte seinen Koffer in beiden Händen und zerrte nochmal heftig daran. Dann hatte er ihn. Der junge Mann grinst Johannes breit an, während er rief: „Und ab dafür.“

Dann rannte er los. Er war jung. Er war schnell. Und er kannte sich hier aus. Im hektischen Slalom um die anderen Passanten rannte er auf den Hinterausgang des Bahnhofes zu.

Johannes hatte nicht lange gebraucht, um seine Situation zu erfassen. Was da vor ihm wegrannte war sein Leben, und wenn er es nicht sofort wieder einfing, dann war’s das. Johannes blieb so dicht hinter dem Kerl wie er konnte. Aber der Junge war gut. Er war verdammt schnell. Johannes schaffte es nicht, der dicken Frau auszuweichen, die direkt vor ihm mit beiden Beinen gleichzeitig von einer Rolltreppe sprang, wie es halt nur Frauen fertigkriegen. Die Arme nach vorn landete er weich, als es die dicke Pelzträgerin umriss. Beim Versuch sich wieder aufzurappeln und die Verfolgung seines Koffers wieder aufzunehmen, riss er der Frau jedoch die Goldkette vom Hals. Er stand nur sekundenlang mit ihrer Kette in der Hand da, dann warf er sie der dicken Frau vor die Füße und rannte los.

„Ein Dieb, haltet den Dieb!“ schrie die am Boden kugelnde Frau los. Für Erklärungen hatte Johannes jetzt wirklich keine Zeit. Der Typ, der ihn beklaut hatte war bereit außer Sicht und Gottseidank schien sich auch sonst niemand für das Geschrei der Frau zu interessieren.

„Haltet den Dieb!“ kreischte die Dicke erneut, doch Johannes war schon am Ausgang und um die nächste Ecke verschwunden. Der Kofferdieb war nirgends zu sehen. Im Brustkorb machten sich Stiche bemerkbar. War das nur die Lunge, oder die Panik, die Johannes erfasste? Er konzentrierte sich darauf, ruhiger zu atmen und dachte nach. Der würde mit dem Koffer doch sicher nicht nach Hause gehen. Er musste ihn so schnell wie möglich ausräumen und verschwinden lassen. Alles andere wäre viel zu riskant. Direkt neben Johannes war eine Toilette. Aber da war er sicher nicht. Es gab aber noch eine weitere Toilette auf der anderen Seite des Bahnhofs. Da musste er untergetaucht sein. Johannes stürmte los.

Kurz bevor er den Toilettenraum betrat blieb er stehen und sah sich um. Niemand in der Nähe. Hastig schraubte er im Schutze seines geöffneten Mantels noch den Schalldämpfer auf seine 45er. Er durfte nichts riskieren. Drei Toilettenboxen waren besetzt. Vorsichtig legte er das Ohr an jede Kabinentür. Bei der Mittleren hatte er Glück. Kratzgeräusche, die wohl kaum bei der Benutzung des Klopapiers entstehen konnten. Johannes machte einen Schritt zurück, schaute noch einmal rechts und links, dann hob er die Waffe und trat die Tür ein.

Glück gehabt. Der Kofferdieb versuchte gerade äußerst stümperhaft mit einem Messer den Koffer aufzubrechen. Schon die Kratzspuren konnten Johannes das Leben kosten, wie zum Teufel sollte er das seinem Auftraggeber erklären.

„Tschuldigung, ich habe kurz den Koffer verloren, aber …“ Blödsinn, bis dahin wäre er schon tot. Der Junge schaute erst ihn erschreckt an, dann den Lauf der Waffe.

„Und ab dafür“, knurrte Johannes zufrieden und begutachtet das kleine Loch zwischen den Augen des Jungen. Die anderen in ihren Kabinen rührten sich nicht. Vielleicht hatten sie aber auch nichts gehört. Wie auch immer, so war es gesünder für sie. Ein Schritt in die Kabine hinein und Johannes hatte den Koffer wieder. Er drehte den Schalldämpfer ab, steckte die Waffe ein und verließ die Kabine. Das heißt er wollte die Kabine verlassen, doch kaum war er durch die Tür getreten, sah er die zwei Polizisten vor sich stehen. Und dahinter, als wenn das nicht genug für heute gewesen wäre, kreischte die dicke Frau:
„Das ist er! Das ist der Dieb!“



Und ab dafür! (11) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 1995. Alle Rechte vorbehalten.