Keiner geht allein

Kurzkrimi

Schweigend saß Hermann seinem Bruder gegenüber. Hermann verstand nicht, wie sein Bruder so ganz anders sein konnte als er. Ihre Mutter hatte ihr Leben lang versucht, sie zu anständigen Menschen zu erziehen. Als Hermann damals zur Polizei-Schule ging war sie stolz auf ihn. Und Klaus? Klaus lebte von Gelegenheitsjobs, war ewig in Geldnot und weigerte sich beharrlich, eine Ausbildung zu machen. Und als er später seine Wohnung verlor, weil er die Miete zu unregelmäßig zahlte, war klar, dass Hermann ihn bei sich aufnahm. Keine Frage. Aber es war eng geworden in der Wohnung. Seine eigene Frau und seine zwei Kinder und nun auch noch Klaus mit seiner Frau. Die vier Zimmer boten einfach nicht genug Platz. Schon gar nicht, wo Klaus jetzt Vater wurde. Seit Wochen bemühte sich Hermann um eine größere Wohnung. Sein Gehalt als Streifenpolizist reichte hinten und vorne nicht, um eine siebenköpfige Familie zu ernähren.

Das hatte er auch Klaus gesagt. Er hatte gespürt, wie sehr Klaus sich geschämt hatte, und es tat ihm in der Seele weh, den eigenen Bruder so zu sehen. Trotz allem weigerte sich Klaus, eine Ausbildung zu machen oder sich einen festen Job zu suchen.

Dann hatte Hermann seinen Ohren nicht getraut, als Klaus ihm vor ein paar Tagen erzählte, dass er einen Juwelier ausrauben wollte. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander. Sie waren Brüder. Aber Hermann war auch Polizist.

„Hör zu“, sagte Klaus in die Stille des Abendessens, „heute ist es soweit. Ich werde es tun.“

„Das geht nicht Klaus, du machst doch alles nur noch schlimmer“, versuchte Hermann ihn zur Vernunft zu bringen.

„Es ist beschlossene Sache. Ich muss es tun. Für meinen Sohn.“ Klaus ließ keinen Zweifel daran, dass ihn nichts von seinem Vorhaben abbringen könnte.

„Dann werde ich dich begleiten“, sagte Hermann mit trockenem Hals.

„Das tust du nicht. Denk an deine Familie. Es ist ja nicht deine Schuld, und du hast schon so viel für mich getan.“

„Ich denke ja an meine Familie“, antwortete Hermann mit eindringlicher Stimme. „Keiner geht allein!“ fügte er hinzu. Das hatte ihnen die Mutter immer gesagt. „Keiner geht allein!“

Die beiden Brüder fielen sich in die Arme, schauten sich lange an, dann nickte Hermann, und sie machten sich an die Arbeit.

Gegen halb vier morgens standen die Brüder vor dem Juweliergeschäft. „Nur das Schaufenster“, sagte Hermann. „Und dann nichts wie weg.“ Klaus nickte und hob den schweren Stein hoch, mit dem sie die Scheibe einwerfen wollten. In Hermann stieg unaufhaltsam die Übelkeit auf. Er sah innerlich sein ganzes Leben mit diesem einen Steinwurf ruiniert. Klaus zielte, holte aus, aber weiter kam er nicht, denn da gellte schon die Alarmanlage los. Die Brüder starrten wie versteinert auf das Schaufenster. Wie konnte das sein?

Hermann hörte das Zuschlagen einer Tür und sofort erwachte der Polizist in ihm.

„Der Hinterausgang“, rief er Klaus zu. „Den schnappen wir.“

Hermann rannte los. Sein Bruder blieb dicht hinter ihm. Doch schon nach hundert Metern fiel er immer weiter zurück. Gerade als Hermann in die Querstraße hinter dem Häuserblock einbog, sah er eine dunkle Gestalt, schwer beladen um die nächste Ecke biegen. Er schaute kurz nach seinem Bruder, aber der war nicht zu sehen. Hermann war ein erstklassiger Läufer und hatte die Ecke schnell erreicht. Die Gestalt war jetzt vielleicht noch 150 Meter vor ihm und er rief: „Stehenbleiben, Polizei!“

Der Mann lief weiter, aber Hermann kam ihm unaufhaltsam näher. Der Dieb warf den schweren Beutel in ein Gebüsch neben dem Gehweg. Hermann sah es deutlich. Endlich ertönten auch die Sirenen der Kollegen durch die Nacht. Weitere drei Querstraßen verfolgte Hermann den Dieb. Er blieb ihm immer dicht auf den Fersen. Plötzlich tanzten grelle, blaue Lichter um ihn herum. Unmittelbar hinter ihm war ein Streifenwagen. Atemlos deutete Hermann auf den Mann vor ihm. Die Kollegen verstanden und beschleunigten. Sie stellten ihren Wagen vor dem Flüchtenden quer auf die Straße. Der hielt an und wollte zurück, aber da hatte Hermann ihn mit einem kräftigen Sprung zu Boden geworfen.

Hermann wies sich aus und begleitete die Kollegen aufs Revier, um seine Aussage zu machen. Gott sei Dank, fragte ihn niemand, weshalb er so spät und so weit weg von Zuhause spazieren ging. Schließlich war er Polizist und niemand wäre auf die Idee gekommen, dass er selbst gerade im Begriff war, den Juwelier auszurauben.

Er und natürlich sein Bruder. Wo war eigentlich sein Bruder? Wahrscheinlich hatte er sich aus dem Staub gemacht. Das war auch gut so. Die Kollegen klopften ihm für seinen guten Einsatz mehrmals anerkennend auf die Schultern und ließen ihn gegen halb sechs wieder nach Hause gehen.

Klaus wartete in der Küche auf ihn.

„Gut, dass du dich rechtzeitig verdrückt hast“, sagte Hermann, „das hätte sonst nur dumme Fragen gegeben.“

„Aber ich habe mich nicht verdrückt“, empörte sich Klaus. „Du weißt doch, ›Keiner geht allein‹. Nur, du warst halt so schnell.“

„Hat dich die Polizei befragt?“ Hermann wurde etwas nervös.

Klaus schüttelte den Kopf und griff in seine Jackentaschen. Plötzlich hatte er beide Hände voller Schmuck. „Ich war immer hinter dir.“

„Du hast seine Tasche mitgehen lassen?“

„Nein, ich bin doch nicht blöd. Nur ein paar der Beutestücke.“

„Es wird eine Untersuchung geben, wenn sie feststellen, dass ein Teil der Beute fehlt.“

„Bleib ganz ruhig. Niemand hat mich gesehen und du hast ein Alibi. Von dem Geld könnte ich ein Tabakgeschäft aufmachen. Einverstanden?“

Herrmann dachte einen Moment lang nach. Dachte an seine Wohnung und an die Chance erwischt zu werden. Dann sagte er zögernd: „Aber nur dieses eine Mal!“


Keiner geht allein (84) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 1995. Alle Rechte vorbehalten.

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