Mit mir nicht

Kurzkrimi

Sabine hatte sich vorgenommen darüber zu schweigen. Das sollte aber keineswegs heißen, dass sie das Geschehene einfach so hinnehmen wollte. Werner sollte sich da mal nicht täuschen. Auch wenn sie verheiratet waren, so etwas konnte sie ihm nicht durchgehen lassen. Vielleicht genügte es anderen Frauen, sich in solchen Fällen mit Entschuldigungen abfertigen zu lassen. Für Sabine zählte das alles nicht. Passiert war passiert, aber es würde nicht wieder geschehen. Dafür würde sie sorgen.

Es gab keinen Grund sich hängen zu lassen. Sabine ging in die Schule wie an jedem anderen Tag auch. Zeitweilig war sie wohl nicht recht bei Sache. Das war unübersehbar. Sie musste dreimal einen Schüler seine Antwort wiederholen lassen, weil sie einfach nicht mitgekriegt hatte, ob die Antwort richtig gewesen war oder nicht. In Gedanken überlegte sie dabei die verschiedenen Möglichkeiten sich für Werners Vergehen zu rächen. Sie sollte ihm im Schlaf den Schwanz abschneiden und ihn jämmerlich verbluten lassen, wie es diese Amerikanerin gemacht hatte. Wie hieß die noch gleich? War ja auch egal. An ihren Namen würde sich danach auch bald niemand mehr erinnern. Das wäre natürlich eine äußerst radikale Maßnahme. Wahrscheinlich auch überzogen. Sie könnte ihm die Vorhaut mit Sekundenkleber abdichten. Dann musste er sich beschneiden lassen. Diese Idee gefiel Sabine deutlich besser.

Sie war noch dabei sich auszumalen, wie die Chirurgen das kleine verklebte Zipfelchen abtrennten und dabei munter ihre Zoten zum Besten gaben, als sie Vera im Flur vor dem Lehrerzimmer traf. Einen Moment lang war sie versucht, ihr alles zu erzählen. Vera galt als extreme Feministin und die Sache mit der atomar verschmolzenen Vorhaut würde ihr sicherlich gut gefallen. Aber es musste ja nicht jeder wissen, auf was für bescheuerte Einfälle Werner verfiel, wenn er betrunken war. Sabine musste gut achtgeben, dass sie nicht doch anfing, sein Verhalten zu entschuldigen. Betrunken oder nicht, es war eine Schweinerei und Werner wusste das. Sie war sicher, dass ihm das klar war, als er es tat.

Werner kam später nach Hause als sie. Er hatte noch Sportstunden in der Oberstufe. Sabine sprach kein Wort mit ihm.

„Schlechte Laune?“ fragte er, als wenn er kein Wässerchen trüben konnte.

„Haste deine Tage?“ fragte er weiter, als Sabine ihm nicht antwortete. Sabine ließ ihr Besteck in die Spüle krachen und ging an ihre Klassenarbeiten. Er sollte bloß nicht glauben, dass er einfach so tun könnte, als wenn nichts gewesen wäre.

Sie blieb den ganzen Abend über in ihrem Arbeitszimmer, obwohl es nicht viel zu korrigieren gab. Für den Ernstfall hatte sie eine Liege hier. Sie musste also keineswegs im gemeinsamen Schlafzimmer nächtigen.
Kurz nach zehn klopfte Werner an die Tür.

„Hast du dich wieder eingekriegt?“

„Hau bloß ab und Lass mich in Ruhe“, fuhr sie ihn an.

„Was ist denn? Habe ich dir etwas getan?“

Sabine nahm einen Stapel Hefte und warf ihn in Richtung Tür. Werner ging rechtzeitig in Deckung.

„Lass mich endlich in Ruhe“, schrie Sabine. Endlich zog Werner die Tür zu.

Was bildete sich dieser Mistkerl ein? Hatte er überhaupt gar kein Unrechtsbewusstsein. Sie musste ihm unbedingt eine Lektion erteilen. Es reichte nicht, dass es nie wieder vorkam. Er sollte sich auch lange daran erinnern, was er ihr angetan hatte.

Am empfindlichsten würde sie ihn sicherlich treffen, wenn sie irgendetwas mit seinem neuen Wagen anstellte. Der Sekundenkleber kam ihr wieder in den Sinn. Da gab es dutzende Möglichkeiten. Sabine fiel es schwer, das richtige Maß ihrer Rache zu bestimmen. Er hatte ihr wehgetan. Aber ihn deshalb gleich zu vergiften, das wäre wirklich zu viel des Guten. Seinen Wagen zu beschädigen, wäre zwar angemessen, aber damit schadete sie sich auch selbst. Reparaturen waren teuer und letztlich hatten sie keine getrennten Kassen. Sie musste einen Weg finden ihn zu treffen, ohne sich selbst dabei eins auszuwischen. Diese Nacht verbrachte sie erst mal auf der Couch. Schon aus pädagogischen Überlegungen heraus.

Am nächsten Tag hatten sich ihre Rachegelüste erst einmal etwas relativiert. Vorrangig war, dass sie verschlafen hatte und, dass ihr Rücken vom Liegen auf der Couch schmerzte. Warum musste sie bloß an derselben Schule wie Werner unterrichten? Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn in der Pause zu grüßen und ein paar flüchtige Worte mit ihm zu wechseln. Das hätte sonst sofort wieder Gerede gegeben. Ehestreitigkeiten waren das Lästerthema Nummer 1 im Lehrerzimmer. Schließlich waren Werner und Sabine nicht das einzige Paar im Kollegium. Ein Grund mehr aber auch absolut niemandem etwas zu erzählen. Das musste sie bei ihrer Rache berücksichtigen. Wenn es öffentliches Gerede gäbe, würde sie darunter noch Wochen leiden. Die verklebte Vorhaut schied folglich aus. Früher oder später würden das sogar die Schüler mitkriegen, denn einige Lehrer hatten es fertiggebracht, ihre eigenen Kinder an dieser Schule unterrichten zu lassen.

Zu Hause herrschte aber wieder eisiges Schweigen. Bis auf weiteres strafte Sabine ihren Mann mit eiserner Missachtung. Zumindest solange bis ihr etwas Besseres einfiel.

Zwei Tage lang schien es Werner nichts auszumachen, dass Sabine nicht mit ihm sprach, dann wurde er ungehalten.

„Warum redest du nicht mehr mit mir? Habe ich irgendetwas verbrochen?“

„Frag nicht so dumm, das weißt du doch ganz genau!“ schimpfte Sabine laut los. Sie fand, dass es Zeit wäre, jetzt mal etwas zu dieser Angelegenheit zu sagen. Schweigen brachte sie auf Dauer auch nicht weiter.
„Was denn? Was hab ich denn gemacht?“

„Was war denn letzten Sonntag, kannst du dich daran schon nicht mehr erinnern?“

„Na, klar. Ich war beim Doppelkopf und hatte zu viel Wein getankt, ja und?“

„Und was war, als du nach Hause gekommen bist?“

„Wenn ich dir wehgetan habe, tut es mir leid. Das habe ich aber auch schon gesagt.“

„Ich weiß, du warst betrunken. Aber betrunken hin oder her: Du hast es gegen meinen Willen getan.“

„Gegen deinen Willen? Was soll das denn wieder heißen?“

„Ich hatte keine Lust. Und so schon gar nicht. Drüber hatten wir oft genug gesprochen.“

„Sah aber so aus, als ob du deine Meinung geändert hattest.“

„Wie bitte? Ich höre wohl nicht richtig. Ich habe dir mehrmals gesagt, du sollst aufhören.“

„Das hast du schon öfter gesagt, wenn du keine Lust hattest.“

„Ach ja?“

„Genau. Dann wolltest du aber meistens doch. Der Appetit kommt bekanntlich mit dem Essen.“

Sabine atmete tief durch, um ihren Puls unter Kontrolle zu kriegen. Das letzte, was sie jetzt wollte, war vor seinen Augen mit einem Herzinfarkt zusammen­zu­brechen. Das wäre alles andere als eine Rache gewesen.
„Hör auf mit diesen beschissenen Sprüchen. Du hast mich vergewaltigt. Das ist eine Tatsache. Ich habe ja sogar versucht mich zu wehren.“

„Vergewaltigt? Lass diesen Unsinn bloß niemanden hören, mein Gott! Außerdem hast du dich nicht gewehrt!“

„Habe ich nicht gesagt: Hör auf!“

„Schon, aber …“

„Kein aber! Und ich habe auch versucht, dich von mir runter zu drücken, richtig?“

„Aber wir kabbeln doch öfter im Bett rum. Wenn ich dir in den Oberschenkel beiße, versuchst du mich auch daran zu hindern, aber das heißt doch nicht …“

„Das ist etwas ganz anderes. Das ist Spaß!“

„Ach ja, und Sonntag war es plötzlich kein Spaß.“

„Das weißt du ganz genau. Du hast mir wehgetan.“

„Ooh, mein Gott, woher sollte ich wissen, dass du das wirklich nicht willst. Außerdem war ich besoffen!“

„Du gibst also zu, dass du mich vergewaltigt hast!“

„Wenn du es unbedingt so sehen willst, von mir aus, aber …“

„Dann sollte es dir wenigstens leidtun. Das ist ja wohl das mindeste, was ich erwarten kann, oder?“

„Also gut, es tut mir leid.“

„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du das nicht ernst meinst.“

„Würdest du jetzt bitte aufhören könntest, darauf so herumzureiten? Ich habe Mist gebaut, in Ordnung? Soll ich jetzt vor Scham im Boden versinken? Oder es vielleicht fünfzigmal im Lehrerzimmer an die Tafel schreiben?“

Sabine war zufrieden. Von einem Moment auf den anderen stand er da wie ein Häufchen Elend. Sie verstand, dass er die Sache lieber hätte unter den Tisch fallen lassen. Darüber zu sprechen war allein schon eine schwere Strafe für ihn. Die Peinlichkeit seines Fehlverhaltens konnte er wahrscheinlich kaum ertragen. So war das also. Er wusste ganz genau, warum sie nicht mit ihm gesprochen hatte. Sie war jetzt sicher, dass das nie wieder vorkommen würde. Sonst sähe er sich ganz schnell wieder so einem unangenehmen Gespräch gegenüber.

„Können wir die Sache nicht einfach vergessen?“ bat er in fast jammerndem Tonfall.

Sie ließ ihn noch eine Minute zappeln und schlug noch einmal drauf.

„Du weißt jetzt, dass das nicht Ordnung war?“

„Ja, mein Gott.“

„Dann ist ja gut.“

Während des Abendessens erzählte Werner den neuesten Klatsch von den Lehnartz, den er im Lehrerzimmer gehört hatte. Sie standen jetzt kurz vor der Trennung. Eine wirklich traurige Geschichte. Das ganze Kollegium sprach darüber. Nach dem Essen zog Sabine wieder ins gemeinsame Schlafzimmer ein. Nicht, dass sie Lust auf Sex gehabt hätte, aber als Werner anbot ihr den Rücken zu massieren, legte sie sich entspannt auf den Bauch. Er machte das viel zu selten. Das sollte wohl Teil der Wiedergutmachung werden. Besonders lange massierte er sie nicht, dann schob er sich auf sie.

„Nicht jetzt, Werner. Massier mich lieber weiter.“

„Bist du sicher?“

„Sie war nicht sicher. Vielleicht war es wie bei einem Unfall, wenn man sich nicht gleich wieder ans Steuer setzte, ging die Angst vor dem Fahren nie wieder weg.

„Na gut“, sagte sie und wollte sich herumdrehen. Aber Werner hielt sie fest und drückte sie tief in das Kissen.

„Werner!“

„Mmh, ja, ich mag es, wenn du so tust, als wenn du dich wehrst.“

„Hör auf!“

„Autsch, du hast mich getreten. Das tat weh. Na warte …“

„Werner!“ Sie versuchte mit aller Kraft, sich unter ihm weg zu drehen. Aber er war Sportlehrer und erheblich stärker als sie. „Werner nicht da rein!“ schrie sie ihn an, als sie merkte, dass er es schon wieder tun wollte.
„Ach jetzt stell dich nicht so an, so schlimm war das nun auch nicht.“

„Werner. Ich warne dich!“ Sie wehrte sich, so gut sie konnte. Aber es war zu spät. Als er eingedrungen war, ließ sie mit der Gegenwehr nach, um sich größere Schmerzen zu ersparen.
Sie sagte nichts, nachdem er sich endlich von ihr herunter gerollt hatte. Sabine nahm sich vor darüber, zu schweigen. Sie biss vor Wut in das Kopfkissen. Das sollte aber keineswegs heißen, dass sie das Geschehene einfach so hinnehmen wollte. Werner sollte sich da nicht täuschen.



Mit mir nicht (16) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 1997. Alle Rechte vorbehalten.