Der Stiefel

„Oh nein!“, fluchte Sabine laut. „Diese verdammten Köter!“ Das waren ihre neuen Winterstiefel. Na gut, wirklich winterlich waren die nicht. Dafür waren die Absätze eigentlich zu hoch und zu spitz. Obwohl sie damit gerade auf einem vereisten Gehweg wenig Probleme hätte. Spikes. Im wahrsten Sinne.

Sie nannte sie Winterstiefel, weil sie sich jedes Jahr zwei paar Stiefel für über 500 Euro leistete. Ein Paar im Sommer und ein Paar im Winter.

Dies hier war eben ihr Paar Winterstiefel. Das Leder glänzte wie frisch lackiert, die metallischen Absätze wirkten hochglanzpoliert. Aber eben nur bis zur Spitze. Dort hatte sich eine halb gefrorene Hundewurst aufgespießt.

Widerliche Viecher. Na gut, natürlich waren die Besitzer die Schweine und Schweinehaltung in Großstädten war ja eigentlich untersagt.

Sabine zog den Reisverschluss an dem linken Stiefel auf und schlüpfte hinaus. Sie humpelte die Treppe hinauf bis in den dritten Stock, stellte den Stiefel vor der Tür ab und öffnete ihre Wohnungstür. Einen einzelnen Stiefel würde wohl keiner klauen, oder? Jedenfalls nicht in den fünf Minuten, die sie brauchte um ihre Einkäufe im Gefrierfach zu verstauen. Mit der Hundekacke am Schuh, wollte sie ihre Wohnung jedenfalls nicht betreten.

*

„Bleiben Sie stehen!“ rief eine äußerst autoritäre Stimme hinter ihm. Wenn genug Zeit gewesen wäre, hätte er sich umgedreht und dem Kerl einen Vogel gezeigt. Aber gerade die Zeit war jetzt nicht wirklich auf seiner Seite. Ihm ging allmählich die Luft aus und es war fraglich, wie lange er dieses Tempo noch durchhalten konnte.

Eines würde sich Kurt für die Zukunft merken. Auch, wenn man es einer ultrablonden Frau auf den ersten Blick nicht zutraute, aber einen Knopf drückten konnten wohl selbst die. Diese dumme Nuss bei dem Juwelier, den er gerade besucht hatte, konnte es jedenfalls ganz und gar unauffällig.

Dass der Alarm ausgelöst worden war, hatte Kurt erst daran gemerkt, dass er eine Polizeisirene hörte, die sich rasend schnell näherte.

Kurt hatte hektisch seine Pistole in der Jackentasche verschwinden lassen. Das, was bereits auf der Glasvitrine lag hatte er schnell in sein schwarzes Samt-Tuch eingewickelt und war aus dem Laden gestürmt. Draußen bog der erste Streifenwagen, der das mit dem stillen Anfahren noch nicht so drauf hatte, gerade um die Ecke. Leider konnten ihn die Beamten wohl doch noch sehen. Kurt hätte sich über seine Dummheit, der Blondine auch noch schöne Augen gemacht zu haben, geärgert, wenn das Adrenalin nicht die Kontrolle über seinen Denkapparat übernommen hätte. Sein Hirn rief nur noch die Worte: „Scheiße“ und „Lauf“. Und das immer abwechselnd.

Gehetzt lief er durch die kleine Grünanlage. Er hatte nicht darüber nachgedacht, dass die Polizisten ihn hier mit dem Wagen nicht verfolgen konnten. Es war purer Instinkt. „Scheiße und lauf!“ Nein, lauf, lauf, lauf!

Natürlich hatten diese 20jährigen Beamten eine Kondition wie gescheiterte Triathleten. Und sie waren ihm längst zu Fuß auf den Fersen. Aber Kurt hatte ja Erfahrung. Das war auch was wert.

Er nutzte die Gelegenheit, als er kurzzeitig aus dem Sichtbereich seiner Verfolger war, um in einen Hausflur zu flüchten. Für Klingelstreiche hatte er keine Zeit. Er trat die wackelige Haustür aus der Jahrhundertwende einfach einem gezielten Tritt auf und schloss sie hinter sich schnell wieder. Vielleicht konnte er die Bullen so abschütteln.

Langsam entfernte er sich rückwärts von der Haustür in den hinteren Teil des Flures. So weit, so gut. Aber was, wenn die Beamten merkten, dass er hier drin untergetaucht war?

Kurt stieg hinauf in den ersten Stock und lauschte. Leider dauerte es nicht wirklich lange bis diese ehemaligen Polizeischüler den Schaden an dem Türschloss entdeckt hatte. Während er sich im Treppenhaus weiter nach oben vorarbeitete, hörte er, wie die Beamten unten im Hausflur über Funk Verstärkung anforderten.

Seine einzige Chance war nun, dass er über die Dachböden bis aufs Dach kam.

Kurt sah sich um. Überall standen kleine Stiefel vor den Wohnungstüren. Das erinnerte ihn an etwas. Richtig! Heute war Nikolaus. Seine Chancen zu entkommen, waren minimal.

Vor einer Wohnungstür entdeckte Kurt einen Stiefel, den er mit Sicherheit wiedererkennen würde. Seine Mutter hatte solche früher getragen, wenn sie von der Arbeit kam. Schwarze Lackstiefel mit Metallabsätzen.

Er beschloss seine Beute darin vorübergehend zu verstecken. Wenn er es schaffte zu entkommen, käme er später zurück, um die Beute zu holen. Wenn nicht, dann würden sie ihn zumindest ohne die Klunker fassen.


Wenigstens damit hatte er Glück. Die Tür zum Dachboden war offen. Er fand sogar die Luke, die hinauf zum Dach führte. Und er schaffte es auch über das Dach zwei Häuser weiter wieder in ein Treppenhaus zu gelangen. Das war ja das gute an diesen alten Stadthäusern, dass die alle irgendwie zusammenhingen.
Aber unten im Treppenhaus des Nachbargebäudes warteten ebenso viele Polizisten auf ihn, wie ihm über das Dach gefolgt waren.
Kurt gab auf. Jetzt noch die Feuerzeug-Replica aus der Tasche zu ziehen und sich unglücklich zu machen, das war nicht seine Art.

*

Der Krach im Treppenhaus war unerträglich. Leute mit schweren Schuhen rannten rauf und runter. Ein Heidenlärm war das.

Sabine schloss den Eisschrank, öffnete die Schublade unter der Spüle und zog sich die Einweghandschuhe an. Am liebsten hätte sie sich auch noch eine Wäscheklammer auf die Nase gesteckt, aber so etwas hatte sie nicht mehr im Haus, seit sie den neuen Trockner hatte, der selbst mit Wolle klar kam. Echt ökologisch, 6 Stunden Trockenzeit, aber ihre Wohnung sah picobello aus. Und das war ja wohl das Wichtigste. Auch, wenn sie das letzte Mal vor vier Monaten Besuch hatte.

Sie öffnete ihre Wohnungstür, ein Polizist hetzte gerade die Treppe runter.

„Bleiben Sie in ihrer Wohnung!“ schrie er im Vorbeilaufen. „Das ist ein Polizeieinsatz!“

„Gern!“ antwortete Susanne, obwohl der Polizist schon fast außer Hörweite war. Ein lautes Poltern veranlasste sie aber trotzdem nach dem Mann zu sehen.
„Alles in Ordnung?“ rief sie.

„Blöde Stiefel!“, war die Antwort. „Warum müssen die Gören denn ihre Stiefel im Treppenhaus stehen lassen.“

„Ist Nikolaus!“ antwortet Susanne, obwohl der Polizist an einer Antwort wohl nicht ernstlich interessiert war. Er hatte sich wieder aufgerappelt und rannte gleich weiter die Treppen hinunter.

„Diese Gören können froh sein, wenn ich sie nicht wegen Behinderung der Justiz anzeige!“ fluchte der Beamte und setzte seine Verfolgung fort.
Susanne schüttelte den Kopf. Sie griff mit zwei Fingern nach ihrem eigenen Stiefel und trug ihn weit von sich gestreckt in die Wohnung.

Dann entfernte sie vorsichtig den Hundekot mit Küchenkrepp von dem Absatz.

Als sie den Stiefel umdrehte, um den Absatz unter fließendem Wasser endgültig von der Hundelosung zu befreien, fiel etwas aus dem Schaft hinaus. Es war schwer. Sah aus wie eine Tüte aus schwarzem Samt und schepperte ein wenig, als es auf dem Küchenboden aufschlug.

Susanne legte verblüfft den Stiefel im Waschbecken ab und hob das schwarze Päckchen auf. Die Steine glitzerten unglaublich. Ein Kollier, vier Armbänder, eine Handvoll Ringe, etliche Ohrringe, leider keine Kreolen, die sie so mochte, aber dafür ein paar Broschen und etliches mehr.

Der Stiefel hatte doch nur wenige Minuten draußen gestanden. In der Zeit konnte unmöglich der Nikolaus hereingeschaut haben. Oder doch?

Susanne ahnte irgendwie, dass dieses Polizeigetrampel etwas mit dieser viel zu kostbaren Gabe zu tun haben könnte. Aber sie hatte getan, was die Polizei ihr gesagt hatte. Sie war wieder in ihre Wohnung gegangen und hatte ihren Stiefel aus dem Flur geräumt. Nach irgendwelchem Schmuck hatte sie ja keiner gefragt.

Sie verstaute das glitzernde Zeug in einer alten Kaffeedose. Sie hatte gelesen, dass Polizeihunde durch den starken Kaffeeduft irritiert werden. Vielleicht fragte ja auch keiner mehr danach.

Auf einmal machte es ihr weit weniger aus, ihren schönen neuen Winterstiefel von dem Hundekot zu befreien und ihr fiel ein altes polnische Sprichwort ein: „Kacke am Hacken, heißt Glück im Schuh.“

Der Stiefel (118) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2012. Alle Rechte vorbehalten.