Der kopflose Samurai

Der Angriff


Der Nebel kroch schwer von Hängen herunter. Er schlängelte sich durch das Dickicht unter den niedrigen Bergkiefern und floss wie ein milchiger Geistersee ins Tal hinunter. Horio Kanhira hob die Hand. Das Klappern der Rüstungen erstarb augenblicklich.

Sein Blick wanderte hinauf auf die Anhöhe. Hatte er dort einen Schatten gesehen? Angestrengt starrte er in das verschwommene Weiß. Nein. Er senkte die Hand und der Tross der Soldaten setzte sich wieder in Bewegung.

Horio atmete flach. Seine Rüstung war schwer und seit einer Stunde war seine Abteilung im leichten Trab um den Hügel gestürmt. Ihr Auftrag lautete: Die gegnerische Reiterei ausfindig zu machen und sie daran zu hindern Uesugi Kenshins Armee in die Flanke zu fallen. Das war eine ehrenvolle Aufgabe und da die Reiterei meist aus vielen Bushis bestand, hatte Horio berechtigte Hoffnung mit reicher Beute ins Lager seines Herrn zurück zu kehren. Aber vorerst war von diesen verdammten Reitern keine Spur.

Das einzige Trappeln, das Horio hörte war das seiner Männer, die durch den feuchten Boden stapften.

Wieder hob Horio die Hand. Es war totenstill, wenn man vom dem unterdrückten, keuchenden Atem seiner Soldaten mal absah. Horio konnte nicht deutlich genug durch den Nebel hören. Er hob den Finger und seine Männer hielten die Luft an. Alles, was er jetzt noch hörte, war der Pulsschlag in seinen eigenen Ohren. Und der wurde lauter und lauter.

Nein, das waren Pferdehufe! Horio reagierte schnell, jetzt konnte es um Sekunden gehen. Er hatte sein Katana gezogen und nur wenig später standen auch seine Männer in Schlachtordnung, sofern dies auf dem schmalen Weg möglich war. Sie waren auf einen Reiterangriff vorbereitet.

Dann löste sich die Silhouette eines einzelnen Reiters aus dem Nebel. Ein Späher? Ein Bogenschütze hatte neben Horio Stellung bezogen und hatte den Feind im Visier. Keinesfalls durfte der Späher seinen Feldherren von diesem Hinterhalt berichten.

Doch als man den Reiter endlich klar erkennen konnte, sah Horio, dass es ein Bote von Kenshins Armee war.

Shingens Armee war nach Osten ausgewichen und hatte versucht Kenshin mit dem gesamten Heer zu umgehen. Die Schlacht war im vollen Gange, allerdings gute 15 Kilometer von hier entfernt. Horios Einheit sollte versuchen, sich so schnell wie möglich, wieder mit dem Hauptheer zu vereinen und dem Feind, wenn möglich noch in die Flanke zu fallen.

*

Horio wusste, dass das Unsinn war. Das Schlachtfeld entfernte sich von ihm in Richtung Osten und seine Männer waren völlig erschöpft von dem Gewaltmarsch in die falsche Richtung. Horio verfluchte Hatano, der immer wieder mit seinen falschen Entscheidungen das Herr zersplitterte und anfällig für den Gegner machte. Wann würde Kenshin diesen unfähigen General nur endlich entlassen?

Er befahl seinen Männern sich auf den Weg zu machen. Aber er wußte, dass sie dieses Tempo nicht mehr lange durchhalten würden und selbst wenn, wäre die Schlacht entschieden, bevor sie eingreifen könnten. Doch er traute sich nicht, sich dem Befehl des Fürsten zu widersetzen und seine Männer rasten zu lassen.

Fünf Stunden hatte es gedauert, bis sie das Schlachtfeld erreichten. Die Schlacht war vorbei. Ein Sieg für Kenshin. Auch das noch. So wurde man diesen Hatano niemals los.

Horio entliess seine Männer mit dem Befehl, sich in Kenshins Lager zu sammeln. Er selbst inspizierte frustriert das Schlachtfeld. Er hatte seiner Frau versprochen, dass er sich in dieser Schlacht ein deutlich höheres Koku verdienen würde. Mit ihren jetzigen 300 Koku konnten sie zwar ein gutes Leben führen, aber wohlhabend im eigentlichen Sinne waren sie nicht. Zumal die sieben Kinder Horio ein Vermögen kosteten.

Nicht einen Kopf hatte er erbeutet. Horio sah über die leblosen Körper auf dem Schlachtfeld. Vielleicht hatte ja jemand eine Kopf übersehen! Ein Schande war das, dass er als Samurai hier wie ein Hund über die Müllkippe der Geschichte streunen musste und nach Resten suchte.

Nicht einmal den Kopf eines einfachen Soldaten fand er. Es war nicht seine Schuld, dass er vom Schlachtgeschehen ausgeschlossen worden war, aber er hatte dennoch das Gefühl versagt zu haben. Lediglich den Helm eines Samurais fand Horio in einem Graben. Offensichtlich war er im Gefecht gefallen und der Helm war weggeflogen bei dem Versuch dem Mann den Kopf abzuschlagen.

Horio hob ihn auf. Er kannte den Besitzer nicht. Er hatte noch nie von ihm gehört. Hōjō Ujiyasu, wahrscheinlich ein genauso unbedeutender Samurai wie er selber. Aber der Helm war kunstvoll gefertigt. Vielleicht sollte er ihn umarbeiten lassen. Einen neuen Helm könnte er gut gebrauchen.

Es war einfach zu beschämend hier nach vergessenen Köpfen zu suchen. Horio machte sich auf den Weg ins Lager seines Kriegsherrn.

Der Mönch


Inzwischen brach die Dämmerung herein, der Abendhimmel senkte sich rot über das Schlachtfeld hinter Horio und die Strasse, die zum Heerlager führte wirkte wie ausgestorben. Man konnte sich kaum vorstellen, dass diese Idylle noch vor wenigen Stunden von 40.000 trampelnden Füßen, blutdürstiger Männer auf der Suche nach dem Tod durchquert worden war.

Nun war er allein hier unterwegs. Nicht ganz. Ein Mönch kam ihm entgegen. Die Reisschale in der Hand, einen Wanderstock in der anderen.

Der Mönch wägte jeden Schritte sorgfältig ab, um nicht allzu viel Schaden mit seinem Gehen anzurichten. Horio in seiner Rüstung schien er gar nicht bemerken. Er sah nicht einmal vom Boden auf, als der Samurai scheppernd an ihm vorbei schritt.

Horio mochte keine Mönche. Er fand sie unnütz. Sie kämpften nicht, nahmen alles so gelassen hin. Sie hatten eigentlich keine Ehre und keine Rechte.

Als der Mönch einige Schritte an ihm vorbei war, schoss Horio ein Gedanke in den Kopf, der sofort von seinem ganzen Denken Besitz ergriff. Wenn niemand diesen Hōjō Ujiyasu wirklich kannte, dann könnte auch niemand seinen Kopf sicher identifizieren.

Noch während er den Gedanken zu Ende führte, bemerkte Horio, dass er sein Katana gezogen und umgedreht hatte. So könnte er doch noch zu seiner Belohnung kommen.

Der Mönch hatte wohl gar nicht mitbekommen, wie Horio von hinten auf ihn zugestürmt war. Sein abgetrennter Kopf zeigte nicht einmal eine Spur von Erstaunen im Blick, sondern schien immer noch konzentriert zu Boden zu starren, um ja keine Tiere zu zertreten.

Diese Mönche waren schon ein eigenartiges Völkchen, dachte Horio, als er den Kopf des Mönches aufhob und sicher verpackte. Zusammen mit dem Helm, war er Gold wert.

Den leblosen Körper des Mönchen beförderte Horio mit einem Fußtritt vom Weg hinunter in den kleinen Bach, der sich an der Strasse entlang schlängelte. Nun war ihm das Schlachtenglück doch noch hold gewesen.

Die Belohnung


Am Hofe seines Herrn trat Horio feierlich vor, um Kenshin den Kopf seines getöteten Feindes zu präsentieren. Sorgfältig stellte er den Holzzylinder ab und wartete bis Kenshin vorsichtig über seinen Fächer lugte.

Dann hob er bedächtig den Deckel und präsentierte den Kopf des Hōjō Ujiyasu.

Ein Raunen ging durch die Reihen der Anwesenden. Eine grosse Belohnung wartet auf Horio. Er sah auf. Kenshin hatte sich völlig hinter seinen Fächer zurückgezogen und sein Hofstaat sah furchtvoll und finster drein. Hōjō war wohl doch ein wirklich starker Samurai gewesen und selbst tot schien er den Anwesenden noch Angst zu machen.

Ein Mitglied der fürstlichen Garde trat neben Horio, der noch hinter der Holzkiste kniete.

„Du Wahnsinniger!“ zischte der Samurai. „Das ist nicht Hōjō Ujiyasu, sondern Nagao Harukage, der Bruder des Kenshin. Ein harmloser Mönch!“

Horio schloss die Kiste schnell wieder und sah hoch zu seinem Herrn. Der hatte den Fächer beiseite genommen und starrte Horio voller Hass an.

In diesem Moment wusste Horio, dass man ihm nicht einmal das Seppuku lassen würde und seine Kinder von nun in Armut und Schande aufwachsen würde.

Aber Horio war ein guter Kämpfer, auch wenn man ihm bisher wenig Gelegenheit gegeben hatte das unter Beweis zu stellen. Noch bevor ihm die Leibwache des Fürsten den Kopf abtrennen konnte, hatte er mit rascher Hand sein Wakizashi gezogen und sich die Klinge quer durch den Bauch gezogen. Vielleicht zählte das ja irgendwie.

Der kopflose Samurai (124) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2014. Alle Rechte vorbehalten.