Die Frau des Polizisten

Im Prinzip war sie es ja gewohnt. Als Frau eines Polizisten durfte man nicht auf eine regelmässige Anwesenheit des Gatten hoffen. Seit Jahren war sie es gewohnt, dass Kurt hin und wieder für zwei Wochen völlig von der Bildfläche verschwand. Mal waren es Lehrgänge, oder Einsätze in einem anderen Bundesland. Besonders häufig jedoch Ermittlungen under cover. Dann konnte sie ihn nicht einmal per Handy erreichen. So war das halt mit einem Polizisten.

Grundsätzlich hatte sie sich mit diesem Leben abgefunden und sich entsprechend eingerichtet. Doch seit ihr Mann in die Sonderkommission Sonja versetzt worden war, wurde es ihr doch zu bunt. Im Prinzip war er nur noch jede zweite Woche zuhause. Und das mit penetranter Regelmässigkeit. Klar war es so leichter, sich darauf einzustellen, aber auch, wenn er dann mal zuhause war, schien Kurt nicht wirklich bei ihr zu sein. In Gedanken schien er immer bei der Ermittlergruppe Sonja zu sein. Sonja hier, Sonja da. Silke hatte davon allmählich genug.

Vielleicht hätte es Silke mißtrauisch machen sollen, dass kein anderer seiner üblichen Kollegen in der Sonderkommission Sonja war. Als Frau eines Polizisten hatte sie viel Kontakt zu den Frauen seiner Kollegen. Man blieb halt lieber unter sich. Normale Leute hatten häufig wenig Verständnis die Frauen von Polizisten. Vielleicht eine Beförderung, vermutete Marlies, vielleicht in die Bundesbehörde. Auch die anderen Frauen, bekamen von ihren Männern nur wenig Auskünfte über ihre Tätigkeiten. Nachfragen machten da traditionell wenig Sinn.

Während Silke zusah, wie ihr frischer Tee ein wenig abkühlte, dachte sie nach. Von einer Beförderung hätte er ihr doch erzählt. Seinem Wesen nach war Kurt doch eher ein Angeber. Eine Beförderung oder Versetzung in eine Bundesdienststelle, das hätte er ihr ganz sicher erzählt.

Das einzige was sie wußte war, dass Sonja eine verschwundene junge Frau, die vermutlich Opfer eines Serientäters geworden war.

Der Tee war immer noch zu heiß, trotzdem nahm Silke einen vorsichtigen Schluck. Es war sinnlos sich den Kopf zu zerbrechen. Den Rest der Woche wäre sie allein und sie hatte Lust mal etwas Neues auszuprobieren.

Seit ewigen Zeiten war sie nicht mehr in einem Kino gewesen. Silke wußte gar nicht mehr, was da so lief. Bei Netflix ja, Kino nein. Im Internet fand sie einen Film, der weniger nach amerikanischem Geballer klang als der Durchschnitt. Eine tragische Romanze mit einem norwegischen Schriftsteller. Natürlich mit überraschenden Wendungen. Da ginge Kurt mit ihr eh nicht rein.

Kurzentschlossen zog sie sich um und machte sich auf den Weg. Die 18 Uhr Vorstellung war wirklich nicht überlaufen. Sie bekam günstige Karten und der Vorführraum war bestenfalls ein Viertel gefüllte. Sie kuschelt sich in einen weichen Sessel in den hinteren Reihe ganz am Rand. Sie saß gerne am Rand, auch wenn es für die Optik nicht optimal war.

Gleich mußte es losgehen. Das Licht verdunkelte sich langsam und ein verspätetes Pärchen beeilte sich noch einen Platz in der mittleren Reihe zu finden. Die Frau war ein echtes Schwergewicht und fing eine Diskussion darüber an, ob man die Lehne ein- oder ausklappte. Während das Licht vollständig erlosch, hörte Silke ihren Mann sagen: „Dann halte ich eben den Popcorn Becher. Mit hochgeklappten Mittellehne klappt das doch nie mit deinem Hintern.“

Was Silke die Luft anhalten ließ, war nicht die erwartungsgemässe Antwort auf diese Unverschämtheit, sondern die Erkenntnis, daß ihr Mann auch ihr Mann war. Es war Kurt, der sich sagen ließ: „Sonst hast du doch auch nichts dagegen, wenn ich beim Sitzen viel Platz brauche. Nur im Bus und im Kino wird darüber immer gemeckert.“

Silke fühlte eine Blasenschwäche aufsteigen, die aber wohl eher ein Schockzustand ihrer inneren Organe war, als die Ankündigung eines wirklichen Harndrangs. Der erste Werbeblock war schon vorbei, als Silke den nächsten Atemzug nehmen konnte. Worum es bei der Werbung ging hatte sie gar nicht mitbekommen, irgendwem war es wohl egal, ob sie ihre Tage hatte oder nicht. Sie konnte nicht aufhören das Paar einige Reihen vor ihr in dem schummerigen Licht des Kinosaals zu fixieren. Von dem Film bekam sie im Prinzip auch nicht viel mit.

Als das Licht wieder anging drückte sich Silke ganz tief in den Sessel und wandte sich ab, als die beiden an ihr vorbei zum Ausgang gingen. Arm in Arm und er hatte eine Hand auf ihrem überdimensionalen Gesäß.
„Und nächste Woche mußt du wieder zur Sonderkommission Silke?“ hörte Silke die fremde Frau fragen. „Das paßt mir eigentlich gar nicht!“

Sonderkommission Silke? „Dienst ist Dienst“, hätte Kurt jetzt gesagt, wenn sie an seinen Arbeitszeiten herummäkelte.

„Dienst ist Dienst“, stellt Kurt fest. „Du weißt doch, wie das als Polizistenfrau ist.“

Es war nun wirklich nicht viel Grips nötig, um zu erkennen, daß die fremde Frau wohl Sonja war, die Sonja, die offenbar das Opfer eine Serientäters geworden, war. In Tat.

Silke hatte einen leicht unsicheren Gang, als sie den Beiden in großer Entfernung folgte. Es war ein Polizistengattinnen-Reflex, daß sie ohne Nachzudenken die Verfolgung aufnahm.

Die Hure wohnte nicht weit weg. Es war ein Mietshaus. Altbau. Im dritten Stock. Das schloss Silke daraus, daß dort Licht anging, etwa drei Minuten nachdem die beiden durch die Haustür verschwunden waren.
Es war nicht wirklich klar welche der drei Klingeln es war, vorausgesetzt die Anordnung entsprach den Stockwerken. Sie entschied sich für „S. Kowalski“. Das erschien ihr am wahrscheinlichsten, wenn es sich wirklich um die Sonja handelte. Verärgert schaute Silke noch einmal an Fassade hinauf. Sie hatte eine recht konkrete Vorstellung davon, daß Sonja da oben keine Sessel vor dem Fernseher stehen hatte, sondern sicher eine dieser weiträumigen Wohnlandschaften. Sie brauchte halt Platz, zum Sitzen. Entweder auf der Couch oder eben auf Kurt.


Am liebsten wäre Silke jetzt noch etwas trinken gegangen und hätte sich einen persischen Prinzen angelacht und sich ihm hingegeben. Silke mochte Perser, die waren zwar stark behaart, aber auch furchtbar dankbar, wenn sie mal zum Zug kamen. Aber Silke blieb vernünftig. Sie wollte einen klaren Kopf haben, wenn sie darüber nachdachte, wie ihre Reaktion jetzt aussehen würde.


*

Die ganze Nacht über konnte Silke nicht schlafen. Im Kopf jagte eine Gewaltphantasie die Nächste. Sie kannte ja die Kombination von Kurts Waffensafe. Nur zur Sicherheit natürlich. Also, wenn mal was ist. Und sie wußte, daß dort außer der Dienstwaffe noch ein nicht registrierter Revolver lag, den Kurt mal einem Dealer abgenommen hatte. Sie könnte sich den jederzeit nehmen und ihrer emotionalen Lage entsprechend angemessen reagieren.


*

Am nächsten Morgen fühlte sich Silke nicht sonderlich fit. Eine fast kalte Dusche brachte auch nichts. Sie machte sich einen Zen-Tee, das war angemessen. Sie starrte auf den Waffensafe, das war unangemessen. Und egal, ob Kurt jetzt ein Arsch war oder nicht, sie hatte nicht vor seinetwegen für Jahre im Knast zu sitzen.

Die Werbeversprechen des Zen-Tees waren wohl nicht ganz aus der Luft gegriffen. Nach einem weitern Schluck wurde Silke ganz ruhig und begann konsequent nachzudenken. Wenn Kurt für die Sonderkommission Sonja gar nicht wirklich tätig war, daß mußte er doch wohl tagsüber seinen normalen Dienstpflichten nachkommen. Also wäre auch Sonja heute vormittag allein. Vielleicht sollte sie mal mit dem breitärschigen Serienopfer reden.

Silke schüttete den Rest von dem Tee weg. Genug Zen. Sie machte sich auf den Weg zu Sonjas Wohnung. Dort wartete sie. Sie wartete eine halbe Stunde. Sie wartete eine Stunde. Und sie hätte noch länger gewartet, wenn Sonja nicht in diesem Moment mit eine ökologisch korrekte Einkaufstasche das Haus verlassen hätte. Großartig Abstand halten mußte Silke eigentlich nicht. Sie war sich sicher, daß Sonja keine Ahnung hatte, wer sie war, oder, dass es sie überhaupt gab.

Silke hatte auf Lidl getippt, aber es wurde Budni. Na klar. Übergewichtige Frauen liebten es täglich in den Drogeriemarkt gehen. Als sie Sonja unschlüssig vor dem Regal mit der Katzenstreu stehen sah, beschloss Silke die Gelegenheit zu nutzen.

„Sonja!?“ fragte Silke und riß Sonja aus dem Studium der Sonderangebote.

„Ja?“


Sonja hatte wirklich keine Ahnung, wer Silke war, das war sonnenklar. Und wenn Silke jetzt den Revolver gezogen hätte und ihr ins Gesicht geschossen hätte, hätte der Gesichtsausdruck nicht irritierter sein können.
„Sonderkommission Silke!“ erklärte Silke leicht amüsiert.

„Bitte?“ Sonja wirkte dermaßen irritiert, daß man sie in diesem Moment problemlos hätte einweisen und unter Vormundschaft stellen können.

„Ich bin die Sonderkommission Silke! Hat Kurt nicht von mir erzählt?“

Sonjas Mund stand halb offen, und man sah den Groschen centweise fallen.

Silke gab ihr noch einen Moment.

„Ich bin Silke, die Frau von Kurt“, erklärte sie dann doch, als es mit der Erkenntnis einfach nicht voranging.

„Die Frau?“ Sonjas Mund stand weiter halb offen. Offenbar konnte oder wollte sie die Sache nicht begreifen.

„Ja, die Ehefrau von Kurt. Oder eben die Sonderkommission Silke!“

Jetzt hatte sie es und die Reaktion überraschte Silke.

„Scheiße!“ sagte Sonja intonationslos. Und ihre Gesichtszüge sackten ab feucht gewordenes Papier. Dann wurde sie beunruhigend blass um die Nase.

In diesem Moment tat sie Silke fast leid. Dabei hatte Silke darauf spekuliert, daß auch Sonja die Kombination eines Waffensafes hatte. Nur zur Sicherheit natürlich. Silke vermutete auch dort einen illegale Waffen. Sie hatte schon gehofft, daß Sonja jetzt losstürmen und die Angelegenheit für sie mit einen gezielten Schüssen regeln würde.

„Wollen wir vielleicht irgendwo einen Kaffee trinken?“ fragte Silke fast versöhnlich, als sie sah, daß Sonja einfach nur zusammensackte, wie ein Häufchen Elend.

Sonja nickte stumm, stellte die günstigste Katzenstreu wieder zurück ins Regal und verließ mit Silke im Schlepptau ergebnislos die Drogerie.


*

Gleich gegenüber war eigentlich eher schäbig wirkender Gastronomiebetrieb in dem man Sonja wohl kannte.

Noch hatte sie außer der Latte macchiato-Bestellung noch kein Wort gesagt. Sie war mindestens so geschockt, wie Silke gestern Abend.

„Wie lange sind sie schon seine Frau?“ wollte Sonja dann wissen.

„12 Jahre.“

„Aha“, stellte Sonja geknickt fest. „Ich bin erst 4 Jahre mit ihn zusammen.“

Erst? Wieso erst? Die Sonderkommission Sonja gab es doch gerade mal ein Jahr.

Vermutlich waren seine Undercover-Einsätze dann wohl auch eher frei erfunden. In diesem Moment dämmerte es Silke, daß Kurt einfacher ein Ermittler ohne jeden Ehrgeiz war. Dienst nach Vorschrift von 8 bis 17 bestenfalls.

Sonja mußte es gar nicht sagen, sie dünstete es aus jeder Pore, dass sie ernsthaft verliebt in Kurt war. Und ernsthafte glaubte eine echte und ausschließliche Beziehung mit ihm zu führen. Irgendwie machte Silke das weit weniger Angst, als wenn es sich bei Sonja um eine von vielen möglichen Affären gehandelt hätte. Es beruhigte sie eher, hier ein ernsthaftes Problem vor sich zu sehen. Denn das konnte man lösen. Willkürliches fremdgehen nicht.

Es stellte sich bald heraus, dass Sonja Schuld daran war, daß Kurt sich hatte zur Sonderkommission versetzen lassen, weil sie darauf bestanden hatte, man in ihrer Beziehung zu etwas mehr Planbarkeit kam. Darüber waren sich die Frauen einig: Das war ein Fortschritt. Ebenso einig waren sie sich, daß sie eigentlich mit der daraus resultierend Freiheit ganz zufrieden waren. Überhaupt waren sie sich bis auf Äußerlichkeiten recht ähnlich.

Einen weiteren Kaffee vertrug Silke allerdings nicht. Zuviel Koffein machte sie hibbelig. Nach über drei Stunden, kamen die beiden Frauen zu der Erkenntnis, daß wenn sie nicht voneinander wüßten, sie eigentlich mit ihrem Leben ganz zufrieden waren.

Nun konnte man das Wissen natürlich nicht ungeschehen machen und man konnte es selbstverständlich nicht einfach so ignorieren. Oder doch?


Eigentlich war die Sache klar. Beide Frauen hatten am meisten davon, wenn sie alles einfach so ließen, wie es war. Jede von ihnen hatte eine Woche für sich selbst und eine Woche einen schwerbeschäftigten Mann als gut verankerte Beziehung an ihrer Seite.

Es war ja nur die Eifersucht, die hier einer vernünftigen Lösung im Weg stehen konnte. Und sie waren ja nun beide keine 20 mehr. Daher lag es auf Hand, daß keiner Schaden nehmen würde, wenn man die Existenz der anderen Frau schlicht ignorierte.

„Sagen wir ihm denn, dass wir Bescheid wissen?“ wollte Silke noch wissen.

„Nein!“ antwortete Sonja. „Auf gar keinen Fall. Wir lassen alles so, wie es ist, solange wir uns einig sind und uns absprechen und er davon nichts weiß, können wir die Situation beliebig kontrollieren. Schließlich hat er uns ja auch jahrelang belogen.“

Das klang gut. Damit konnte auch Silke gut leben.


Die Frau des Polizisten (149) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2022. Alle Rechte vorbehalten.