Die Helsinki Falle

Kurzkrimi

Vielleicht sollte sie doch noch etwas Geld abholen. Wenn sie erst mal einen Schuhladen betreten hatte, das wusste Petra aus Erfahrung, dann reichte es gewöhnlich vorn und hinten nicht. Immerhin hatte sie sich angewöhnt, zum Schuhkauf generell keine EC- oder Kreditkarten mehr mitzunehmen, denn das hatte ihren Dispo schon einige Male gesprengt.

In der kleinen Volksbankfiliale ging es, so kurz nach dem Monatsanfang, mächtig rund. Kaufrausch. Zumindest um die dunkelgrünen Wildleder-Pumps beneidete Petra die Blondine in der Schlange vor dem Automaten. Vermutlich hätten die anderen Kunden eher gedacht, dass sie die Frau um ihre Figur beneiden würde. Aber Petra hatte sich längst mit ihren Rundungen abgefunden und erwartete von anderen Leuten, dass die das ebenfalls taten. Sie selbst jedenfalls fand Hungerhaken eher weniger ansprechend.

„Wollen Sie?“ fragte ein wirklich charmanter Mittdreißiger, die Blondine mit den großen Augen.

„Ja, gern“, kicherte die Blonde kokett und nahm den angebotenen Geldautomaten in Anspruch.

Geiler Bock, dachte Petra und wettete mit sich selbst, dass er sie nicht vorlassen würde. Typisch Hohlkopf.

Als wenn er es gehört hätte, drehte sich der Kerl zu ihr um und sah sie mit seinen wasserblauen Augen an. „Möchten Sie vielleicht auch vor?“

Petra wurde rot. Und die spontane Überdurchblutung beschränkte sich nicht nur auf ihre Wangen.

„Ja, wenn es ihnen nichts ausmacht“, krächzte Petra albern und wusste jetzt, dass er die Blonde nur vorgelassen hatte, um in der Schlange hinter ihr landen. Sie kannte die Wirkung ihres Hinterns und wusste, dass die Männer sie auf der Straße nur ungern überholten, wenn sie einen engen Rock trug.

„Ich habe Zeit“, sagte der Mann freundlich und schob sich hinter ihr wieder in Schlange. Blondie drehte sich um und lächelte ihm zu. Sozusagen als Danke. Zwecklos. Petra brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass sein Blick längst magnetisch auf ihrem Glutaeus fixiert war.

Im Hintergrund hörte man eine Kundin genervt nach einer weiteren Kasse fragen. Ja, es war wirklich sehr wenig Personal in der Bank. Streng genommen war eigentlich kaum ein Mitarbeiter zu sehen. Vermutlich eine gewerkschaftlich organisierte Personalversammlung bei Prosecco im Keller.

Eine Antwort bekam die Frau nicht. Jedenfalls nicht von einem Mitarbeiter.

„Was muss man hier tun, um sein Geld zu kriegen?“ fragte die Frau noch eine Spur genervter. „Vielleicht die Polizei holen?“

Wie auf Kommando hörte man in der Ferne gleich mehrere Polizeisirenen. Petra lachte, ein paar andere Kunden lachten ebenfalls. Und der Schalterangestellte sah mit ernster Miene drein und weigerte sich weiterhin, Geld an die Kunden auszuzahlen.

Die Sirenen kamen schnell näher und schon hielt der erste Streifenwagen direkt vor der Bank.

„Ich hab die nicht gerufen!“ behauptete die Frau, die sich eben gerade noch lautstark beschwert hatte.

Petra lachte, als sie merkte, wie sich der vermeintlich nette Kerl von eben an ihrem BH-Verschluss zu schaffen machte. Sie drehte sich um und wollte empört so etwas sagen wie: „Nicht hier!“ oder „Nicht so ungeduldig!“. Doch keiner dieser Sätze kam ihr über Lippen, als sie sah, dass es der Lauf einer Pistole war, der ihr an den Büstenhalter gegangen war. „Was ...?“

„Halt den Mund“, herrschte der Kavalier sie unerwartet schroff an. Dann nahm er sie mit einem schnellen Griff in den Schwitzkasten und hielt ihr den Pistolenlauf an die Schläfe. Draußen bahnte sich ein Volksauflauf der Polizei an. Ein Wagen nach dem anderen hielt mit quietschenden Bremsen vor der Bank. Beamte stiegen aus und brachten sich sogleich hinter ihren Fahrzeugen in Deckung.

„Alles rüber zu den Kassen“, kommandierte der Gentleman und hielt die Waffe hoch, so dass alle sie sehen konnten. Aus dem Bürobereich der Bank kamen etliche Angestellte mit erhobenen Händen und zwei weitere Bankräuber, die die Horde in den Schalterraum getrieben hatte.

Das war unzweifelhaft ein Banküberfall, stellte Petra aus ihrer leicht gebückten Position fest.

„Das ist ein Banküberfall!“ stellte ihr Kavalier die Sache deutlich klar. „Alle auf den Boden!“ Dabei hielt er Petras Kopf weiterhin im Schwitzkasten. Von hier aus konnte sie gut den Lauf einer zweiten Waffe in seiner Hose sehen. Das waren Profis. Die waren bestens ausgerüstet und der Schuhladen machte um 18 Uhr zu.

Das hier konnte vermutlich dauern.

Ein Polizist erschien an der Eingangstür und schaute hinein.

So nach dem Motto: Sind wir hier richtig?

Die Antwort kam laut krachend aus dem Lauf des Gentlemans und der Polizist schlug unverletzt die alt bewährte Hasenfuss-Taktik an, um sich in Sicherheit zu bringen.

„Was nun?“ schrie einer der beiden Verbrecher, die aus dem hinteren Bereich der Bank gekommen waren. Der Maskierte hielt eine offenbar recht schwere Tasche in Hand hielt.

Die Frage war an den Gentleman gerichtet. Anscheinend war er der Anführer.

Petra dachte, dass man die Fenstervorhänge schließen müsste, wegen der Scharfschützen, und dann sollte man verhandeln. Sie überlegte schon mal, was sie essen wollte. Gewöhnlich konnte man bei so einer Geiselnahme bestellen, was man wollte. Und auf die Kalorien zu achten, machte in ihrer Lage nun wirklich keinen Sinn mehr. Petra dachte an Scampi Aioli. Vermutlich war das einer der wenigen Vorzüge in ihrer Situation.
„Schnappt euch jeder eine Geisel und dann raus hier!“

Oder doch lieber Hummer?

„Raus hier? Bist du bescheuert? Da wimmelt es von Bullen.“

„Aber das SEK ist noch nicht da. Jetzt kommen wir noch lebend raus!“

Eine Demokratie war das hier wohl nicht. Weitere Argumente wurden auch nicht ausgetauscht. Petra merkte, wie sie an ihrem Kopf in Richtung Eingangstür gezerrt wurde. Sie war nicht besonders gelenkig und das Gehen in dieser Haltung fiel ihr doch sehr schwer. Zudem knickte sie jetzt auch noch um. Der Absatz hatte gehalten, das konnte sie aus dem Augenwinkel sehen, aber der Schuh war vom Fuß gerutscht.

Wenn sie genug Luft bekommen hätte, dann hätte sie jetzt „Nicht ohne meine Pumps!“ geschrien.

„Beweg dich!“ kommandierte der Gentleman und man hörte ihm seine Anspannung an, als sie auf den Gehweg hinaus traten.

Die Polizei war irritiert. Offenbar war man derzeit auf das Verlassen der Bank noch nicht eingestellt. Der Gentleman zerrte Petra hinter sich her über den Gehweg. Zehn Meter, zwanzig Meter, dann blieb er stehen. Er sah sich hektisch um und suchte offenbar das Fluchtfahrzeug.

Dann ruckte sein Arm energisch und zog Petra gnadenlos weiter vorwärts. Sie steuerten auf ein älteres Wohnmobil zu, das an der Kreuzung vor der Bank im Halteverbot stand. Gerade stieg eine korpulente, aber irgendwie doch sportliche Frau bei der Seitentür ein. Offenbar war sie nur kurz am Geldautomaten gewesen um Bares, vielleicht fürs Frühstück, zu holen.

Der Gentleman hielt ihr die Waffe an den Kopf und rief: „Hüpf rein, Häschen!“

Die Frau grinste unentschlossen. Aber der Gentleman hatte wohl keine Zeit für tiefschürfende Erklärungen. Er drückte ihr den Lauf seiner Waffe in die Rippen und brüllte sie an: „Mach schon!“

Kurz darauf schubste der Gentleman auch Petra in den Camper. Sie landete hart auf dem Boden und im nächsten Moment lag auch der Gentleman auf ihr. So stürmisch? Er trat ihr schmerzhaft auf den Oberschenkel und schob sich auf die Sitzbank. Sekunden später wurde es dann richtig voll in dem Wohnmobil.

Die Polizisten waren den Bewegungen der Verbrecher geduckt und gut gesichert gefolgt. Nun standen sie unschlüssig in der Gegend herum und warteten auf Anweisungen oder Befehle.

„Gib Gas!“ befahl der Gentleman.

„Wie denn, da stehen überall Bullen“, sagte der Fahrer, der zwar blass, aber in dieser Situation weit weniger unentschlossen wirkte, als seine Frau.

„Komm hoch!“ befahl der Gentleman und zog heftig an den Haaren der Camperin. Er zog sie hinauf auf seinen Schoß, direkt vor sich auf die Bank und hielt ihr die Pistole unter das Kinn.

„Macht den Weg frei, oder wir erschießen die Geiseln!“ rief er durch das kleine Seitenfenster, das ja nur einen Spaltbreit geöffnet war.

Petra sah durch das Fenster in die ratlosen Gesichter der fast minderjährigen Beamten. Sie musste etwas tun, bevor die Geiselnehmer noch etwas Dämliches anstellten. Vorsichtig schob sie sich auf die Bank neben den Gentleman und rief: „Der bringt uns noch alle um! Der meint es ernst!“

Der Gentleman sah Petra überrascht an, aber ihre Worte zeigten Wirkung. Die Polizeiwagen, die das Wohnmobil blockierten, setzten umständlich vor und zurück und vor und zurück und gaben schließlich den Weg frei.
Petra tätschelte mit der linken Hand beruhigend den Schenkel des Gentlemans. Dann ging die rasante Fahrt auch schon los.

Mühsam sortierten sich die sechs Zugestiegenen auf den Sitzen des Wohnmobils.

„Hör auf so zu rasen!“ befahl der Gentleman dem Camper. „Oder glaubst du, dass wir die Bullen mit dieser Gurke abhängen können?“

Da hatte er wohl Recht. Wenn er keinen besseren Plan in der Hinterhand hatte, wäre die Lage eher aussichtslos und die Polizei würde ihnen einfach folgen, bis dem Wohnmobil der Sprit ausging.

Doch der geborene Anführer hatte natürlich einen Plan. „Fahr rechts auf die A7 und dann Richtung Flensburg.“

„Was soll das bringen?“ fragte einer der Komplizen. Er sah nicht besonders intelligent aus, mit seinem halb verfaulten Gebiss.

„Lass das mal meine Sorge sein.“

Hinter ihnen hatte sich eine Kolonne aus Polizeiwagen gebildet.

„Das ist doch bescheuert“, meckerte der Zahnfaule wieder. „Die lassen keine Geiseln mehr durch die halbe Republik fahren. Auf der Autobahn werden die uns killen!“

„Frank! Halt den Mund!“ rief der Anführer. Dem Fahrer befahl er: „Da vorne rechts auf die A23! Aber erst im allerletzten Moment, klar!?“

Der Anführer hatte sich zwischen Petras Knie auf den Boden gesetzt. Er schob ihr seine Waffe in den Bauch und sagte: „Wenn ein schwarzer Mercedes versucht uns zu überholen, dann sagst du mir sofort Bescheid, klar?“
Petra nickte und schaute angestrengt aus Fenster.

Der Meckerkopf schaute sich das alles mehr als irritiert an und dann fiel ihm auch nichts Besseres ein, als dem Beispiel seines Anführers zu folgen.

„Ja, hier sind wir sicher“, zickte der zahnlose Frank.

Petra war schockiert. Es war das Wort: „Frank“ gewesen, dass ihr ernsthafte Sorgen bereitete. Er hatte den Namen eines anderen Gangsters genannt. Selbst wenn es unabsichtlich geschehen war, bedeutete es, dass er nicht damit rechnete, dass sie hier lebend heraus kämen.

Petra schaute zu der Blondine rüber. Ihr Gesicht hatte den Farbton ihrer Haare angenommen und sie sah aus, als ob sie jeden Moment losheulen würde.

Sie lächelte ihren Mitgeiseln aufmunternd zu. Einfach aus Mitleid. Aber im gleichen Moment knallte sie hart mit dem Kopf an die Seitenscheibe. Der Fahrer hatte ohne Vorwarnung die Spur gewechselt und war auf den Abbieger nach Heide eingeschwenkt.

Ein klasse Manöver! Petra hielt sich den Kopf und schaute durch die Fenster zurück. Sie hatten nicht einen einzigen Bullenwagen abgehängt. Super Plan.

„Super Plan!“ grunzte der Zahnlose. „Die sind alle noch dran.“

„Klar“, sagte der Anführer. „Die sollten ja auch nur möglichst spät wissen, wo wir hinfahren. Jetzt haben sie weniger Zeit für eine Straßensperre.“

„Na toll! Und dann? Wie kommen wir hier raus.“

Der Anführer antwortete nicht. „Hey du, tritt drauf so gut es geht. Umso höher die Geschwindigkeit, umso geringer die Wahrscheinlichkeit, dass die was riskieren und wir alle sterben.“

Das war richtig, aber die Wahl des Fluchtfahrzeuges erwies sich in dieser Richtung als eher ungeeignet. Für sein Alter war das Wohnmobil wirklich flott, aber der Polizei konnte man damit sicher nicht entkommen. Trotzdem brachte es das Wohnmobil wild schaukeln auf beinahe 140 km/h. Die Strecke war frei und Geschwindigkeitsbeschränkungen wurden von dem Fahrer anweisungsgemäß ignoriert. Offenbar eine Frage der Abwägung von möglichen Strafverfolgungsoptionen.

Die Polizei fuhr stur hinter ihnen her. Das war wohl das, was man eine Hochgeschwindigkeitsverfolgung eines deutlich untermotorisierten Fahrzeugs nannte.

Dann kam die erste Baustelle. Das Wohnmobil kam fast zum Stehen. Eine gute Gelegenheit, für die Polizei zuzuschlagen. Allerdings hatten sie kaum eine Chance in dem Stau an den Wagen heranzukommen. Aber sie gewannen Zeit für die Planung.

„Da sind drei schwarze Limousinen, aber BMW“, sagte Petra, als sie wieder ein wenig Fahrt aufgenommen hatten.

„Gut gemacht, Mädchen!“ lobte sie der Anführer und linste über den Rand der Fenster. „Das ist das MEK.“

„Na Super. Ich hatte immer schon vor, auf dem Fußboden eines Campers auf der A23 zu sterben.“

„Es könnte schlimmer kommen“, sagte der Anführer und schwenkte demonstrativ und abschreckend seine Waffe ein wenig am Fenster.

„Werner, nimm die Beute und teil sie auf. Wir werden uns bald trennen.“

Werner war der, der stur auf der Bank sitzen geblieben war. Offenbar brachte den nichts so schnell aus der Ruhe. Mit trägen Bewegungen griff er nach den beiden Reisetaschen und fing an das Geld herauszuholen.
„Soll ich uns einen Kaffee kochen, solange wir hier im Stau stehen?“ fragte die Camperin. „Wir haben ja alles da …“

„Ja, mach schon, wenn es dich beruhigt.“ Der Anführer schien ein geringes Interesse für die wenigen Vorzüge eines Wohnmobiles als Fluchtwagen zu haben.

Werner hatte den Inhalt der drei Taschen auf dem Boden ausgeschüttet. Die Blonde schaute wie ein Auto, dem plötzlich auf der leeren Landstraße, das Aufblenden in Sinn kommt. Auch Petra hatte noch nie so viel Bargeld auf einem Haufen gesehen. Ein leichtes Zittern erfüllter Erregung durchfuhr ihren Körper. Sie hätte nicht mit Sicherheit sagen können, ob es der Anblick des Geldes oder die Hand des Anführers auf ihrem Oberschenkel war. Vermutlich die Kombination.

In dem Gesicht der Blondine ging jedenfalls eine schlagartige Veränderung vor. Sie lächelte den Anführer eindringlich an und ihre Wangen gewannen wieder an Farbe.

„Knapp 1,8 Millionen“, stellte Werner ungerührt fest. „Also 600 für jeden, ja, Alex?!“

Der Anführer schaute nach den schwarzen Limousinen. Aber die hatten sich wieder in den Pulk aus Streifenwagen zurückfallen lassen. Offenbar schien ihnen der Zugriff in diesem Autowirrwarr nicht besonders sinnvoll.
„Dauert nicht mehr lange, bis die was versuchen“, sagte Alex, der Anführer.

„Das war mein letzter Job mit so einem Amateur wie dir“, polterte der Zahnlose los. „Da kann ich das Geld schon anfassen und jetzt kommen wir aus diesem blöden Auto nicht mehr raus.“

„Vermutlich nicht, nein“, sagte Alex. „Halt oben auf der Brücke an!“, befahl er dem Fahrer dann. Sie waren gerade dabei, die Nord-Ost-See-Kanal-Brücke hinaufzufahren.

„Anhalten?!“

„Hast recht, aber fahr etwas langsamer!“ korrigierte Alex seine Anweisung.

„Frank, du machst die Tür auf! Und halt eine Geisel fest.“

„Was hast du vor?“ fragte Frankenstein.

„Ein Ablenkungsmanöver. Welche Geisel können wir entbehren?“

Petra zog spontan den Saum ihres Rockes noch ein wenig mehr hoch, obwohl man so schon die Ränder ihrer Nylons sehen konnte. Aber die Wahl war in Wirklichkeit bereits gefallen. Der unscheinbare Kerl in den Jeans und dem Sweatshirt, den dieser Werner als Geisel genommen hatte, der sollte es sein.

Der Mann war verständlicherweise nicht sonderlich begeistert, als Frank und Werner ihn an die Tür des Wohnmobils zerrten. Aber dieses lautstarke Gejammer fand Petra nun doch wenig angemessen.

*

So ein Schuss war an sich schon laut. Aber in einem derart kleinen, geschlossenen Raum wie einem Campingwagen war der Knall mörderisch.

Der Knall? Petra hörte eigentlich nur noch ein penetrantes Pausenklingeln. Den echten Knall hatte sie wohl überhört. Sie sah auf, um zu sehen, was passiert war.

Die Geisel stand unverletzt an der Tür und hatte sich schlotternd eingenässt. Aber Frank war weg.

„Endlich“, knurrte Werner. „Der ging mir vielleicht auf den Sack!“

Petra sah sich um. Durch das Heckfenster konnte sie den Körper von Frank noch auf dem Seitenstreifen ausrollen sehen. Dann rührte er sich nicht mehr. Aber die Polizeiwagen hatten heftig abgebremst und einige Beamte sprangen aus den Fahrzeugen, um der vermeintlichen Geisel zu Hilfe zu eilen. Ein heilloses Durcheinander entstand hinter dem Wohnmobil.

„Gib einfach Gas!“ befahl Alex.

Vor ihnen, am unteren Fuß der Brücke, hatte die Polizei eine Straßensperre errichtet. Aber Alex hatte den Braten wohl gerochen. Von hinten näherten sich in schneller Fahrt drei dunkle Limousinen. Jetzt war wohl das Eingreifen der Polizei geplant.

Das Wohnmobil beschleunigte und hielt in voller Fahrt auf die Straßensperre zu. Offenbar war die tote Geisel nicht im polizeilichen Planungsmodell vorgesehen. Die Straßensperre jedenfalls löste sich unvermittelt und hektisch auf und das Wohnmobil hatte wieder freie Fahrt.

„Daran haben die eine Zeit zu knabbern“, stellte Werner zufrieden fest.

Bis die Polizei begreifen würde, dass es keine Geisel war, die da erschossen wurde, dauerte es sicherlich eine Zeitlang. Jedenfalls hatten sie jetzt freie Fahrt über Heide hinweg nach St. Peter Ording.

*

„Wie geht’s jetzt weiter“, wollte Werner wissen, als sie die Landstraße mit 120 entlang rasten.

Alex grinste breit. „Alles läuft planmäßig.“

Petra hatte irgendwie das Gefühl, dass dieser Plan sich vermutlich nur auf eine einzige Person bezog. Voraussichtlich würde man am längsten leben, wenn man sich sehr, sehr dicht bei Alex aufhielt.

Sie griff also vorsichtig nach seiner unbewaffneten Hand und schob sie zurück auf ihren fast völlig freiliegenden Oberschenkel. Alex sah sie irritiert an und grinste dann. Auch Blondie war jetzt näher an Alex herangerückt. Dumm war die nicht. Werner hatte genug mit der dritten Geisel zu tun, so dass er sie wohl nicht ernstlich vermisste.

Wenn sie versuchen würde, sich an Alex heranzumachen, bekäme sie die Spitze von ihrem Hackenschuh zu spüren. Petra ließ ihre Nebenbuhlerin keinen Moment aus dem Auge.

„Was jetzt?“ fragte der Fahrer nervös, als er die enge Promenade am Strand entlang fuhr.

„Da vorn auf den Deich und auf der anderen Seite wieder runter, mitten auf den Strand!“ befahl Alex. Jetzt war es wohl soweit. Petra fühlte eine gewisse Anspannung bei Alex. Er hatte seine Hand von ihrem Schenkel abgezogen und sah mehrmals auf Uhr.

„Passt!“ sagte er und schaute in die nebelige Ferne, wo irgendwo das Meer sein musste.

Aber nun war Ebbe und das Wohnmobil schoss wie durch schwere See mit mehr als 100 km/h über den Strand.

Selbst die erfahrene Camperin konnte unter diesen Umständen keinen Kaffee mehr in die Becher füllen. Sie schrie dezent auf, als sie sich das erste Mal verbrühte.

„Wohin?“

Alex orientierte sich kurz. „Da! Siehst du den Priel rechts? Da rüber und dann immer daran entlang!“

„Da ist das Meer!“ sagte der Fahrer verwirrt.

„Genau!“

Einen Moment lang dachte Petra, der Camper schaffe es nicht durch den Priel. Das Fahrzeug wurde stark abgebremst und sie spürte das Wasser unter ihren Füssen an das Blech schlagen. Aber dann war er doch durch.
Petra sah sich um. Da waren bestimmt dreißig Streifenwagen, die ihnen folgten. Einer nach dem anderen schoss durch den Priel.

Noch war das Watt einigermaßen befahrbar. Aber kurze Zeit später sah man immer mehr Wasser und immer weniger Watt.

„Die Flut!“ schimpfte der Fahrer. „Sie haben uns mitten in die Flut gelenkt.“

„Fahr weiter nach rechts rüber.“

„Ja, und dann?“

„Fahr soweit es geht.“

„So eine Scheißidee! Gleich stecken wir fest!“ Den Fahrer bewegten offenbar ernstliche Sorgen um sein geliebtes Wohnmobil.

Ein Blick nach hinten sagte Petra, dass er Recht hatte. Die Polizeiwagen waren sehr viel langsamer und der Abstand zu ihnen immer größer geworden.

Der Motor des Wohnmobils begann zu stottern und verstarb kurz darauf.

Werner kam hoch und sah nach den Bullen. Der Abstand war ziemlich groß geworden. Bei genauer Betrachtung wurde klar, dass die Polizei sich sogar auf dem Rückzug befand. Vor der Flut vermutlich.

„Na also“, murmelte Alex.

„Was jetzt?“ wollte nun auch Werner wissen, der allmählich ebenfalls nervös wurde.

„Jeder für sich selbst“, sagte Alex kühl und hielt seine Waffe auf Werner gerichtet. „Mach die Tür auf!“

„Verdammt, hab ich‘s doch geahnt, dass du uns linkst.“

„Mach ich nicht, keine Angst.“ Alex stieg aus und griff nach seiner und Franks Tasche mit der Beute. „Du hast eine faire Chance. Nimm dir eine Geisel und lauf. Die Flut kommt schnell. Wenn du clever bist, kannst du irgendwo untertauchen.“

„Ja klar, und zwar im Wasser“, fluchte Werner.

Petra war schon bei der Tür. Sie wollte auf keinen Fall zur Geisel von dieser Niete werden. „Okay, du kommst mit mir.“

Alex hielt die Pistole auf sie gerichtet. „Geh!“

Doch Petra zögerte. Das war ihre Chance, aus ihrem bisherigen Leben auszusteigen. Sie griff einfach nach der letzten Tasche mit der Beute.

Natürlich wollte Werner sie nicht hergeben. Alex sah Petra irritiert an. Sie hielt seinem Blick stand und die Tasche fest in den Händen. Plötzlich nickte Alex. „Dann so! Ist mir auch Recht!“

Als Werner in den Lauf der Automatik blickte, gab er nach. Er ließ die Tasche fluchend los. Petra nahm die Tasche und folgte Alex durch das kniehohe Wasser in das diesige Nichts, das vor ihnen lag.

Von der Polizei war weit und breit nichts zu sehen, und das Wohnmobil verschwand jetzt auch schnell aus ihrem Sichtfeld.

Allerdings schien sie jemand zu verfolgen. Petra konnte nicht genau erkennen, wer es war. Aber sie vermutete, dass es Werner war, der sich seine Beute wiederholen wollte.

Petra hatte keine Zweifel an Alex. Das war ein richtiger Mann. Der wusste, was er tat. Und sie folgte ihm blindlings mit einer Tasche voller Geld durch das immer tiefer werdende Wasser.

„Ist nicht schlimm, wenn das Geld nass wird“, sagte er keuchend. „Das können wir wieder trocknen.“

Es sah gar nicht so weit aus, als vor ihnen die Masten eines Bootes zu sehen waren. Aber da hatte sich Petra mächtig verschätzt. Die letzten hundert Meter bis zu dem Boot mussten sie tatsächlich mehr schwimmen als laufen.

Sie überlegte, ob sie ihren Rock ausziehen sollte. Petras letzter Schuh hatte schon wenige Meter vom Camper entfernt sein Leben als Flaschenpost beendet. Vermutlich grübelt irgendwann einmal irgendjemand lange darüber nach, warum er einen angeschwemmten, knallroten Damenschuh am Strand gefunden hatte.

Alex half ihr auf das Boot. „Kannst du mit so einem Boot umgehen?“ fragte er prustend und keuchend, als sie sich neben ihm über das Deck rollte und erschöpft hustete.

Das war ein alter Fischkutter mit dem schönen Namen „Rose of Helsinki“.

Petra hatte damals einen Sportbootführerschein gemacht, als sie in diesen rothaarigen Surflehrer verliebt gewesen war.

„Ja!“ antwortete sie nickend.

„Na, da habe ich mir ja die richtige Geisel ausgesucht.“

Zwei Minuten später war Alex wieder auf den Beinen und begann das Bott klar zu machen. Mühsam rappelte sich Petra auf und half ihm.

In der Ferne hörte man einen Hubschrauber, ansonsten war von der Polizei nichts zu sehen.

Sie hatten es tatsächlich geschafft.

„Noch haben wir es nicht geschafft“, stellte Alex klar. „Knapp 11 Seemeilen trennen uns von der Freiheit.“

Alex hatte sich hinter das Steuer geklemmt und den Motor angeworfen. Er steuerte geradewegs auf das offene Meer zu.

Petra sah zurück, dorthin, wo der Camper gerade untergegangen sein musste. Aber sie sah nur ein Paar Hände, das sich an die Reling des Kutters klammerte. Und das waren nicht die Hände von Werner. Diese pink lackierten Fingernägel hatte sie heute oft genug gesehen, um zu wissen, wem die gehörten.

Petra sah zum Führerstand des Kutters. Alex war voll und ganz damit beschäftigt, das Boot auf Kurs zu bringen.

Schnell ging sie die drei Schritte bis zur Reling und schaute hinüber.

„Hilf mir hoch!“ keuchte das Blondchen kraftlos.

„Was willst du hier?“ fragte Petra genervt.

„Meinst du, ich lasse dich mit den ganzen Taschen voller Kohle allein abhauen?“

„Verschwinde!“ grunzte Petra wütend. „Alex hat schon eine Geisel und das bin ich.“

„Geisel! Das ist nicht lache! Du bist scharf auf Alex. Oder vielleicht auch nur auf das Geld.“

„Ach ja? Und du?“

„Ich will beides, aber wenn er mehr auf Dicke steht, bin ich auch mit dem Geld zufrieden.“

Es war taktisch wenig clever, jemanden zu beleidigen, wenn man eigentlich auf seine Hilfe angewiesen war. Somit war es wohl ganz im Sinne der Evolution, wenn Petra die Weitergabe dieser dümmlichen Gene ein für alle Mal unterband.

„Was tust d…“, mehr hörte Petra von dieser Frau nicht mehr. Den Rest verschluckte die See, nachdem sie ihrer Konkurrentin geholfen hatte, die Reling wieder loszulassen.

Einen Moment schaute Petra der Blondine noch nach, aber schon nach Sekunden war von ihr nichts mehr zu sehen oder zu hören.

Vollkommen zufrieden mit ihrem eigenen Schicksal verzog sie sich unter Deck. Sie entledigte sich erst mal der nassen Klamotten und machte sich daran, aus den reichlich vorhandenen Vorräten ein Essen zu zaubern.

*

„So das war’s“, erklärte Alex, als er zum Essen runter kam. „Oh, passendes Outfit für die Frau des Fischers.

Petras Sachen waren noch nicht ganz trocken, deswegen servierte sie, ihre nachgebesserten Backed Beans aus der Dose eben nur in Hüfthalter und Nylons.

„Was war’s?“ fragte Petra zurück.

„Wir sind in internationalen Gewässern. Da kann uns die Polizei nichts mehr.“

„Klingt gut!“

„Riecht gut!“ Alex nahm einen großen Löffel und verzog im nächsten Moment das Gesicht.

„Kochen ist nicht meine Stärke“, erklärte Petra ehrlich und probierte selber von ihren gepimpten Chili Beans. „Zu scharf!“ stellte sie schnell fest.

„Geht so. Ich hab es gern etwas scharf.“

Petra kicherte kokett und schob diesen Satz innerlich ins Zweideutige. Das war ja nicht der erste Geiselnehmer, der sich in seine Geisel verliebte.

Ein Hubschrauber war über dem Fischkutter aufgetaucht und Alex, der inzwischen wie ein alter Seebär gekleidet war, ließ den Löffel fallen, um an Deck nach dem Rechten zu sehen. Es war nicht ganz auszuschließen, dass ihm diese Unterbrechung des Essens nicht wirklich ungelegen kam.

Der Hubschrauber der Marine umkreiste die Rose of Helsinki mehrmals. Alex winkte ihnen zu. Da der Kutter unter norwegischer Flagge fuhr, schwirrte der Helikopter nach einigen weiteren Runden wieder ab. Offenbar wusste niemand so genau, wie der gesuchte Geiselnehmer im Wattenmeer verschwunden war.

„Lass dich bloß nicht an Deck sehen“, sagte Alex. „Und wenn doch, dann zieh dir richtige Klamotten an.“

*

Alles lief bestens. Sie fuhren weiter immer Richtung Norden. Petra hatte sich inzwischen als Frau des Fischers verkleidet und schrubbte das Deck, als in der Ferne ein Schnellboot der Marine auftauchte. Die waren misstrauischer, als Petra erwartet hatte.

Das Schnellboot kam rasch näher und Alex wurde ein wenig nervös. Fisch hatten sie keinen an Bord, aber dafür drei Taschen voller Geld. Petra verschwand unter Deck und versteckte die Taschen so gut es ging. Nur für den Fall, dass die Marine an Bord kommen würde.

Aber das tat sie nicht. Das Schnellboot umkreiste die Rose of Helsinki. Eine Menge Ferngläser waren auf sie gerichtet, während Petra die Essensreste über die Reling entsorgte und genervt winkte.

Mit einem Megafon fragte ein Offizier von dem Schnellboot, ob sie noch andere Kutter und Schiffe in der Nähe gesehen hätten, oder vielleicht jemanden aus dem Wasser gefischt hätten. Aber Alex zuckte nur mit den Schultern und zeigte auf die norwegische Flagge. Der Offizier wiederholte die Frage auf Englisch und Alex schüttelte den Kopf, während sich Petra, unwissend was sie da tat, an einem der Netze zu schaffen machte.

„Nichts gefangen?“ erkundigte sich der Offizier freundlich. Wieder schüttelte Alex den Kopf und winkte scheinbar verärgert ab.

Damit war die Schnellbootbesatzung wohl zufrieden.

„Du bist gut“, lobte Alex sie. „Aber das Abendessen werde ich kochen. Kannst du den Kurs halten?“

Natürlich konnte Petra den Kurs halten, vor allem bei eingeschaltetem Autopiloten. Heute war ja jeder Uraltkutter mit Hightech nachgerüstet. Sie löste Alex auf der Brücke ab.

*

Das Schiff der Marine war nicht wirklich verschwunden. Es folgte dem Fischkutter in einiger Entfernung. Aber darüber war Alex nicht sonderlich beunruhigt. Und kochen konnte er auch. Es gab Spaghetti mit Pesto. Dazu hatte er Scampi in Olivenöl angebraten. Ganz so, wie es sich für ein Dinner für Zwei auf einem einsam vor sich hinschaukelnden Fischkutter gehörte.

Petra fühlte sich sehr behaglich. Die Sonne war untergegangen, sie saßen hier gemütlich in der schwankenden Kajüte eines alten Kutters und hatten lecker gegessen. Es war nur schade, dass sie ihre Pumps nicht dabei hatte.
Nachdem sie den Abwasch erledigt hatte, setzte sie sich zu Alex auf die Bank. Der war schon kurz vorm Einschlafen und er wehrte sie nicht ab, als sie sich vorsichtig an ihn schmiegte.

Er wurde aber wieder wach, als ihre Hand nach seiner Männlichkeit suchte und sie begonnen hatte, ihn leidenschaftlich zu küssen.

Er wurde sogar sehr wach. Sie brauchte ihn nicht zu der viel zu kleinen Koje am Ende der Kajüte zu zerren, denn er schob sie förmlich vor sich her. Zufrieden stellte Petra fest, dass er ein genauso guter Liebhaber, wie Koch, Bankräuber und Seemann war.

Sie genoss es, dass er seine Anspannung der letzten Stunden mehrfach an ihr abreagierte und als er zum vierten Mal erfolgreich die Stellung gewechselt und abgeschlossen hatte, war sie sicher, den Mann fürs Leben gefunden zu haben.

Alex sackte erschöpft und zufrieden mit seinem Tagewerk auf der Matratze zusammen.

„Wo fahren wir eigentlich hin?“ wollte Petra von ihrem dahindämmernden Mann wissen.

„Nach Brusand“, murmelte Alex und schloss die Augen.

„Und dann?“

„Da wartet meine Frau mit dem Wagen und dann geht es per Flieger nach Panama!“ Alex grunzte erschlafft und nickte dann sanft weg.

Petra hingegen war wie vom Schlag getroffen. Wieso seine Frau? Und obwohl auch sie sogar zweimal das Vergnügen gehabt hatte sich zu entspannen, konnte sie jetzt keinesfalls schlafen.

Sie stand auf und sah im Führerstand beunruhigt nach dem Rechten.

*

Es war der Rest der zweiten Kanne Kaffee, die Petra die Nacht über wachgehalten hatte, den sie ihrem Geliebten am Morgen lauwarm servierte.

Alex moserte nicht. Es hatte sich mit ihren Kochkünsten wohl schon abgefunden. Da wunderte es ihn nicht, dass sie nicht mal heißen Kaffee zuwege brachte. Und es war ja auch nur für ein paar Tage.

Die Marine folgte ihnen immer noch in weiter Ferne. Man konnte sie auf dem Radar sehen. Mit dem Fernglas jedoch nicht. Deswegen sagte Petra nichts, als Alex ihr mit der freien Hand zwischen die Beine fasste und lächelnd sagte: „Na, du bist ja wohl ein ganz schlimmes Mädchen.“

Wäre das ihr Mann, hätte sie gelacht und sich ihm augenblicklich hingegeben. Aber so … Petra stöhnte künstlich und lustbetont auf und sagte, dass sie neuen Kaffee aufsetzen müsste.

*

Der weitere Tag verlief recht eintönig. Der Diesel tuckerte vor sich hin. Aus Wut und Langeweile biss sie ihren Beinahe-Ehemann zweimal ins Gemächt, während er nach der norwegischen Küstenwache Ausschau hielt. Alex nahm ihr das aber nicht übel, denn er war sicher zu der Überzeugung gekommen, dass Petra in gewisser Weise zu Ungeschicklichkeiten neigte.

Beim Abendessen sprach Petra dann an, was ihr auf der Seele brannte.

„Das mit deiner Frau, wie wollen wir das lösen?“

Alex stutzte. Er verstand die Frage nicht.

„Kriegt sie auch einen Teil der Beute, oder wie soll das laufen?“

„Nein, nein“, wehrte Alex ab. „Du kannst deinen Anteil allein behalten. Kerstin und ich behalten die anderen beiden Taschen. Wir gehören ja schließlich zusammen.“

Das war es, was Petra hören wollte. Oder eigentlich nicht hören wollte. Sie stand auf und zog sich bis auf die Unterwäsche aus.

„Wäre schön, wenn du mich wenigstens noch mal romantisch unter dem Sternenhimmel auf dem Deck nimmst“, gurrte sie mit einem tief versteckten Knurren.

„Aber klar. Wenn du möchtest!“ Offenbar fand es Alex nur natürlich, dass die Frauen sich ihm allzeit willig hingaben.

„Warte oben auf mich“, forderte sie ihn charmant auf. „Ich habe da noch eine Flasche Wein gesehen, die wir öffnen können.“

Natürlich wollte er oben warten. Natürlich verstand er das mit dem Nachthimmel an Deck. Was könnte denn schöner sein, als ihm in so romantischer Atmosphäre bei einem Glas Rotwein zu Willen zu sein. Das müsste doch der Höhepunkt für jede Frau sein.

*

Alex stand an die Reling gelehnt. Geizte nicht mit einer entfernt an Adonis gemahnenden Pose und wartete darauf, seiner ursprünglichen Geisel Wiedergutmachung angedeihen zu lassen.

Aber es war kalt hier draußen und Petra hatte nur ihre Unterwäsche und die ruinierten Strümpfe an. Das würde sicher kein Spaß werden.

Nun begab es sich aber, dass Petra kein Weinglas in der Hand hielt, sondern die Automatik, die Alex unter seinem Kopfkissen hatte liegen gelassen. Und es war auch kein Korken, der knallte, sondern ein 9mm Geschoß, das mit hoher Geschwindigkeit die Mündung verließ.

Es blieb nicht die Zeit, um das Grinsen sein zu lassen, während die erste Kugel seine Stirn durchschlug. Und es blieb auch nicht genug Zeit, nach hinten über die Reling zu kippen, um nicht von zwei weiteren Einschlägen in die Brust getroffen zu werden.

Dann war Ruhe. Petra stand in ihren Strapsen an Deck und schaute dorthin, wo ihr Geliebter eben über Bord gegangen war. Sie zitterte. Erregung. Oder Kälte? Einerlei! Sie machte kehrt und ging wieder in die Kabine, um sich umzuziehen.

So erging es eben einem Kerl, der sie betrog.

Kurz darauf kam sie wieder an Deck und warf die Waffe über Bord. Dann verzog sie sich mit einer Kanne Kaffee in den Führerstand.

*

Sie war ein paarmal eingenickt, aber nur kurz und sie musste grauselig aussehen, nach zwei Tagen Schlafentzug und ohne Dusche.

Durch das Fernglas konnte Petra sehen, dass die norwegische Küstenwache die Deutschen abgelöst hatten.

Zwischenzeitlich kamen die Norweger näher ran, offenbar, um nachzusehen, ob der Bankräuber noch an Bord war. Petra winkte ihnen beruhigend zu und kümmerte sich nicht weiter um sie.

Jetzt galt es einen Plan zu machen, wie sie von diesem Schiff wieder runter kam. Ihr Blick fiel auf das Beiboot.

Wartete nicht in Brusand eine Frau auf ihren Mann? Vielleicht wusste die Polizei längst, wer Alex war. Petra schaute auf der Seekarte nach. Bei ihrer Geschwindigkeit würde sie Brusand vermutlich gegen Mitternacht erreichen. Sicher war das auch der Plan gewesen. Wo genau die Frau wartete, wusste sie ja nicht, aber sie beschloss, möglichst dicht bei der Ortschaft an Land zu gehen. Da war das Risiko entdeckt zu werden zwar größer, aber eben auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Ehefrau dort am Strand wartete, entsprechend geringer.


Kaum, dass die Nacht hereingebrochen war, begann Petra mit den Vorbereitungen. Sie verstaute die Geldtaschen in dem Beiboot. Überprüfte den Motor und zog sich ihre alten Sachen wieder an. Nur einen Nylon, der andere war dermaßen zerfetzt, dass bestenfalls Streifen von ihm übrig waren.

Geduld war nicht ihre Tugend, aber kurz vor Mitternacht war es endlich soweit. Sie ließ das Beiboot zu Wasser und programmierte den Autopiloten neu. Die Rose of Helsinki würde nun Kurs auf die Shetland Inseln nehmen und die Küstenwache würde ihr sicherlich noch eine Zeitlang folgen, bis sie merkte, dass das Schiff längst aufgegeben war.

Es war eine wackelige Angelegenheit, ins Beiboot zu steigen. Aber beim dritten Versuch klappte es endlich. Sie warf den Motor an, machte die Leinen los und hielt darauf zu, wo sie Land vermutete.

Wie gesagt, sie war ungeduldig und der Seewind pfiff ihr scheidend durch die Klamotten. Doch nach zwei Stunden war es soweit. Sie konnte Land erkennen.

Es dauerte noch eine weitere halbe Stunde bis sie es unter den nackten Füßen spürte, aber es war ein wunderbarer Sandstrand. Körnig gewiss, aber eben Sand.

Petra sah sich um. Hier war niemand. Sie holte die Taschen aus dem Beiboot und ging einige Meter ins Landesinnere, bis sie sicher war, dass die Dünen hier nicht überschwemmt wurden. Dann vergrub sie die Taschen, so tief sie konnte zwei Meter neben einem Schild, das ihr auf Norwegisch vermutlich das Betreten der Dünen verbot. Noch einmal prägte sie sich ein, wo sie war. Aber das konnte überall sein. Zur Sicherheit kratzte sie ein unscheinbares, kleines Kreuz in die Emaille des Schildes. Dann stieg sie wieder ins Beiboot und fuhr die Küste entlang, bis sie die Lichter von Brusand sehen konnte.

Dort ging sie erneut an Land. Es tat ihr weh, auch nach den zweiten Nylonstrumpf zu zerreißen und dann noch Rock und Bluse, aber das war nötig.

Völlig erschöpft und mit zerrissenen Sachen klopfte sie an die erste Tür, wo Licht war. Natürlich verstand sie niemand. Aber es war für jedermann sofort klar, dass dies ein Fall für die Polizei war.

*

Selbstverständlich hatte auch die deutsche Polizei eine Menge Fragen, die Petra gewissenhaft beantwortete.

Ja, sie war die Geisel dieser Bestie gewesen. Und ja, da war noch eine zweite Geisel, aber die hatte der Geiselnehmer umgebracht, weil sie sich gewehrt hatte. Ja, eine blonde Frau. Nein, sie wusste nicht, wo dieser brutale Kerl abgeblieben war. Er hatte sie ja die meiste Zeit unter Deck gefangen gehalten und eines Nachts gezwungen, in dieses Beiboot zu klettern. Dann seien sie irgendwo an Land gegangen, wo ein Komplize auf ihn gewartete hätte. Nein, den Komplizen habe sie nicht gesehen, weil der Geiselnehmer, sie gleich, als sie an Land waren, habe laufen lassen. Er hätte aber irgendwann von einer Geliebten gesprochen.

Und natürlich: Ja, er hatte sie missbraucht, mehrfach, eigentlich unermüdlich und ja, sie bräuchte jetzt wirklich ein bisschen Ruhe, um diese schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten.

Ihre Angaben passten gut zu den Ermittlungsergebnissen. Das Boot wurde aufgegriffen. Leer. Die zweite Geisel und das Geld blieben genauso für immer verschwunden, wie der Bankräuber selbst. Und die Frau des Verbrechers bestätigte, dass sie auf ihren Mann an besagtem Strand gewartet habe. Dieser sei aber unerklärlicherweise nicht gekommen.

Petra war sicher, dass, wenn die Leiche von Alex jemals auftauchen würde, die Polizei sich diese Ehefrau nochmals vornehmen würde. So lange aber könnten sie suchen, bis sie schwarz würden.

*

Petra war wirklich erleichtert als sie endlich wieder allein zuhause ihren Schuhschrank öffnete und all ihre Schätzchen unversehrt vorfand.

„Ja, ja, ihr bekommt bald Zuwachs“, murmelte Petra und freute sich schon auf ihren Urlaub in Norwegen im nächsten Sommer.

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