Too bad to die

Ob man im Krieg überlebte oder nicht, hing nicht unwesentlich davon ab, wie böse man war. Jedes Mitgefühl, jede menschliche Regung konnte das vorzeitige Aus bedeuten. Besser man schaltete all das ab. Besser, man hörte auf zu fühlen. Kein Schmerz. Kein Mitleid. Das war der Krieg. Nur der wirklich Böse konnte überleben.

Wolfram wollte unbedingt überleben. Tatsächlich wollte er das um jeden Preis. Nur für eine Idee zu sterben, fand er mehr als absurd. Egal, ob Freiheit, Demokratie oder wie auch immer die Sprechlappen es nannten. Für Wolfram gab es eine einzige und einfache Regel: Warum war egal, alles was zählte war der Kampf.

Dies war sein erster Einsatz und er fühlte sich wirklich gut vorbereitet. Wochenlang hatte er an der Simulation geübt, jede Eventualität hatte er durchgespielt, nichts konnte ihn jetzt noch wirklich überraschen. Im Geiste ging der den Plan immer wieder durch, bewegte sich so, als ob er eine Kata ausführte.

Unsichtbare Gegner gingen zu Boden, er bewegte sich geduckt von einem Checkpoint zum nächsten. Alles war ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen. Ja, eine gute Vorbereitung war das A und O, wenn nicht alles, für so einen Einsatz.

Es war soweit. Wolfram legte die Schussweste an. Die war schwer und würde seinen Bewegungsradius einschränken. Aber das hatte er bei der Simulation berücksichtigt. Er klemmte die drei Handgranaten an der linken Brustleiste fest und prüfte die Wechselmagazine am Gürtel. Wenn er die Granaten zog, würden sie gleichzeitig entsichert. Die Ausrüstung war nicht die allerneueste, aber sie war zuverlässig und gut. Er hatte sich für eine Kalaschnikow entschieden, weil die nicht so empfindlich war, wenn Dreck in den Verschlussblock gelangte. Außerdem hatte er ja noch die Uzzi und die kleine Walther PPK. Nur für das Finale. Die meisten Gegner würde er wahrscheinlich sowieso mit der Machete erledigen. Schließlich war Lärm in so einer Situation sein natürlicher Feind.

Mit dem Wetter hatte er Glück. Es war ein wenig diesig und noch dunkel, als sich Wolfram auf den Weg zu seinem ersten Einsatz machte. Die Feuchtigkeit legte sich klamm auf seine Kleidung. Er war ganz allein. Niemand käme ihm zu Hilfe, wenn er in Bedrängnis geriete. Auf Anerkennung für seinen Erfolg musste er ebenfalls verzichten. Diese Aufgabe hatte er freiwillig übernommen. Einer musste es ja tun. Warum also nicht er? Er war bereit. Schon lange.


*

Wolfram atmete tief durch. Er nahm die Machete in der Hand und klammerte sich mehr an sie, als dass sie ihm Sicherheit bot. Lieber hätte er zur Kalaschnikow gegriffen. Aber der Plan sah nun einmal ein gewisses Überraschungsmoment vor.

Drei, zwei, eins, zählte Wolfram innerlich: Go!

Wie ein Schatten flog er auf die Tür zu. Ein gezielter Tritt und der rechte Flügel sprang auf. Der Glasverschlag links war leer. Offenbar hatte der Hausmeister es wieder nicht rechtzeitig zur Arbeit geschafft. Dieser elende Trinker!

Ein erster Fehler, aber nicht entscheidend. Wolfram reagierte sofort. Eine schnelle Drehung, zwei Schritte und er stand im Schulbüro. Frau Henning war schon da. Kopflos könnte sie wohl kaum die Polizei rufen.

Wolfram wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Dass ein Mensch so viel Blut durch die Halsschlagader pumpte, war ihm nicht so richtig klar gewesen. Auch das war nicht planmäßig. Es entsprach nicht der Simulation. Er warf die Machete weg. Das war nicht seine Sache und darauf kam es jetzt auch nicht mehr wirklich an. Mit feuchten, klebrigen Fingern zog er die Kalaschnikow von der Schulter. Sie war schon durchgeladen. Er musste sie nur noch entsichern.

Die Gesichter der Lehrer waren vor Schreck verzerrt. So sahen sie noch hässlicher aus, als Wolfram sie in Erinnerung hatte. Sein Finger drückte den Sicherungshebel hinunter. Er lachte, weil er wusste, was jetzt kommen würde. Hasenjagd. Doch passieren tat nichts.

Das Blut der Schulsekretärin hatte seine Finger glitschig gemacht. Daran hätte er denken sollen! Er hätte Handschuhe tragen müssen!

„Verdammte Brut“, schrie er, als er sah, dass einige Lehrer begannen, sich aus ihrer Schreckstarre zu lösen und sich zu bewegen. Endlich schaffte er es, den Sicherungshebel umzulegen. Wolfram zielte auf die Deutschlehrerin und drückte ab. Die Salve die Frau Sievers an die Wand nageln sollte kam nicht. Hatte er doch nicht durchgeladen? Kein Nachdenken, das unterbrach nur seinen Ablauf. Mechanisch suchten seine Finger nach dem Spannhebel, um sein Arbeitsgerät in Betriebsbereitschaft zu versetzten. Aber auch dort rutschen seine Finger in der Mischung aus Waffenöl und Blut immer wieder ab.

„Scheiße! Scheiße! Scheiße!“ schrie Wolfram wütend und schlug die Kalaschnikow mit dem Kolben heftig auf den Boden. Er hatte von einem Soldaten gehört, dass man die Waffe so im Notfall auch mit einem Arm durchladen konnte.

„Verdammt!“ schrie Wolfram erneut. Ausgerechnet dieser versoffene Mathepauker hatte die Tür zum Lehrerzimmer erreicht.

Wolfram schwenkte herum und drückte ab. Er erwischte diesen alkoholkranken Kinderquäler gerade noch am Oberschenkel. Anders aber als im Plan, kroch Brunsbarg weiter. Überhaupt war dieses Chaos in seiner Simulation nie aufgetreten. Überall verschwanden Lehrer hinter Tischen oder schafften es sogar aus dem Zimmer. Der gesamte Plan war zum Teufel. Jetzt hieß es improvisieren. Aber dafür hatte er schließlich lang genug geübt.

Frau Becker erwischte er gleich an der Tür zum Kartenraum. Sie hatte sich ausgerechnet hinter einem Mülleimer in Deckung gebracht. Was glaubte so eine Physiklehrerin eigentlich, was eine Blechtonne gegen ein Kaliber 7,62 ausrichten konnte? Das wird ihr eine letzte Lehre sein. Hätte sie mal lieber im Studium besser aufgepasst.

Gern hätte Wolfram ihr dummes Gesicht gesehen, als die Kugeln durch die Blechtonne hindurch ihren Körper durchsiebten. Aber für Details hatte er keine Zeit. Er musste sich endlich um Frau Sievers kümmern.

Die hatte ihn erkannt und rief: „Wolfram, um Himmels Willen!“ Doch Mitleid kannte er nicht mehr. Sollte sie doch auffahren zu ihren religiösen Wurzeln, mit deren Sprüchen sie immer ihren stinklangweiligen Unterricht würzte.

So allmählich kam Wolfram wieder rein. Jetzt lief es gut. Wer das Lehrerzimmer jetzt noch nicht verlassen hatte, wurde in kürzester Zeit das Opfer seiner Kalaschnikow. Das Blut an seinen Händen war schon angetrocknet und es bereitete ihm jetzt keine Schwierigkeiten mehr das Magazin zu wechseln.

Wolfram hatte im Lehrerzimmer gründlich aufgeräumt. Gefühllos, mit versteinertem Gesicht verließ er den neonbeleuchteten Raum voller Leichen und machte sich auf die Suche nach den Lehrern, die ihm bisher entkommen waren.

Er war fest entschlossen diese Brut auszurotten. Dieses arrogante Pack, das keinerlei Mitleid hatte und ihm das Leben jahrelang zur Hölle gemacht hatte. Und das nur, um ihn dann schlussendlich doch durchs Abi fallen zu lassen.

Welche Wahl hatte er gehabt? Sie hatten doch nie wirklich etwas für ihn getan. Außer natürlich, ihm zu sagen, dass er zu faul war oder zu dumm oder einfach generell kein Talent hatte. Aber eben hauptsächlich zu faul.

Was ihn aber wirklich quälte, hätten diese Spinner eh nie verstanden. Da halfen auch die dummen Sprüche dieser Vertrauenslehrer nicht. Die hatte Verständnis für alles Mögliche, aber nicht wirklich für ihn.

Letztlich hatte er dann Jahre vor der Spielekonsole verbracht und nun sollten sie einmal am eigenen Leib erfahren, womit er sich die ganze Zeit über hatte beschäftigen müssen. Klar, sie hätten sich auch richtig um ihn kümmern können, hätten ihm Alternativen bieten können, irgendwas. Aber ihre Sprüche waren immer nur dieselben: Game over.

Diesmal gäbe es kein Game over. Nicht bevor er diesen Level durch hatte. Diesmal machte er den Highscore.

Brunsbarg war nicht weit gekommen, er lag vielleicht zehn Meter von der Tür entfernt vor den Klassenräumen. Wolfram ging zu ihm hin und hielt ihm den Lauf seines Gewehres vors Gesicht.

„Wolfram! Warum tun Sie so etwas?“

„Weil ich es kann. Endlich einmal etwas, was ich kann, nicht wahr, Herr Brunsbarg!“

„Das ist doch Wahnsinn Wolfgang, haben Sie doch Mitleid. Ich bin wehrlos!“

„Das war ich auch“, sagte Wolfram. „Keine Gnade!“

Er drückte ab. Zur Sicherheit dreimal.

Auf den Gängen war noch nicht so viel los. Die Schule begann ja erst in 15 Minuten und die wenigen Schüler, die frühzeitig da waren, versuchten aus den Fenstern zu klettern oder waren längst geflohen. Es war auch nicht sein Plan, die Opfer zu töten. Nur die Täter.

Da hinten sah er die Dornbeck. Die dusselige Kuh versuchte, sich in ihrem Klassenzimmer einzuschließen.

Wolfram versuchte gar nicht erst, die Tür aufzubrechen. Er warf gleich von hier aus eine Granate bis zur Tür.

„Boom!“ sagte er grinsend.

Das richtige „Boom“ war allerdings erheblich lauter. Und was noch schlimmer war, die Splitter flogen weiter, als er sich das vorgestellt hatte. Ein Stück Holz oder so hatte ihn am Bein erwischt.
Egal. Er humpelte rüber zum Klassenzimmer und trat die Reste der Tür beiseite.

Frau Dornbeck stand neben ihrem Pult. Blass. Sie zitterte. Sie schien ihn gar nicht zu sehen, dabei stand er doch direkt vor ihr. Ihr Blick war in die Ferne über seine Schulter hinweg gerichtet.

„Man wird Sie umbringen!“ stammelte sie wirr.

„Mich nicht!“ behauptete Wolfram gehässig lachend. „Ich bin viel zu böse zum Sterben!“ behauptete er und legte die Waffe auf sie an.

Die Dornbeck schien sich in ihr Schicksal ergeben zu haben. Sie wartete abwesend auf die Kugel, die sie töten würde.

„Wenn ich fertig bin mit euch, dann lege ich die Waffen wieder ab und ergebe mich“, erklärte er diesem dummen Lehrerstück. „Für euch sterben tue ich nicht auch noch! Ich bin doch nicht blöde!“

„Das hat ja auch nie jemand behauptet!“

Ausgerechnet die Dornbeck, die hatte ihn schon dreimal zum Schulpsychologen geschleppt. „Gucken Sie mal, ob der blöd ist!“ Aber nicht einmal war sie auf die Idee gekommen, seine Mutter zu diesen Psychos zu schleppen, das war ja nicht ...“

Jetzt hätte er ihr gern mal gesagt, was sie eigentlich selbst hätte ahnen müssen. Wogegen sie längst hätte etwas tun müssen. Wenn er jetzt mehr Zeit gehabt hätte, hätte er ihr vielleicht endlich gesagt, was sie alle immer nicht aus seinen Antworten heraushören wollten. Aber leider hatte er diese Zeit jetzt nicht. Nicht jetzt!

Der Hausmeister zitterte ebenfalls am ganzen Körper und ließ den Feuerlöscher mit einem dumpfen, metallischen Geräusch fallen. Er hatte in seiner Not mit voller Kraft zugeschlagen.

„Ist er tot?“ fragte er ängstlich.

Frau Dornbeck schaute auf den zertrümmerten Schädel und die noch weit offenen Augen ihres ehemaligen Schülers hinunter.

„Das will ich hoffen!“ sagte Frau Dornbeck ruhig. „Machen Sie sich keine Vorwürfe. Das alles war unausweichlich. Schon von dem Tag an, als der diese Schule das erste Mal betreten hat.“

Der Hausmeister ging in die Knie und begann zu heulen. „Das wollte ich nicht! Aber ich konnte doch nicht zusehen, wie der ...“

„Das war Nothilfe! Da passiert ihnen nichts! Machen Sie sich bloß keine Gedanken über so einen!“

Frau Dornbeck nahm ihre Tasche vom Pult, ihr Gesicht war noch von der Explosion gezeichnet, aber trotz des ganzen Dreckes konnte man eine gewisse, gelangweilte Müdigkeit in ihren Zügen erkennen.

„Das nimmt nie ein gutes Ende mit diesen Kindern, die einfach nicht können oder wollen.“ Unbeteiligt stieg sie über Wolframs Leiche hinweg. Heute gab es hier für sie nichts mehr zu tun.


Too bad to die (115) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2012. Alle Rechte vorbehalten.