Tunnel ins Glück

Kurzkrimi

Er hatte schon von dieser Möglichkeit gehört. Doch er hatte es nicht glauben können. Ein Tunnel, 20m unter Erde, von hier bis nach Amerika. Sicher, Pejonse lebte auch in Amerika. Aber das war ein anderes Amerika. Dort drüben hinter den Bergen, da lag das richtige Amerika. Eigentlich hatte Pejonse gar kein Interesse an solchen Geschichten. Lieber lebte er zufrieden hier in seinem Dorf und ließ die anderen nach ihrem Glück suchen. Doch einmal in seinem Leben wollte auch er etwas riskieren. Vielleicht als reicher Mann zurückkommen und den Rest seiner Tage nicht mehr arbeiten müssen.

20 Meter unter der Erde – ein scheußlicher Gedanke. Doch sie haben gesagt, dass in dem Tunnel eine Klimaanlage sei und Fahrstühle an den Ausgängen, die einen hinauf und hinunter brachten. Die Eingänge waren gut bewacht und die Passage kostete ein kleines Vermögen. Pejonse hätte so viel Geld gar nicht aufbringen können. Und überhaupt hatte er die scheußlichsten Sachen gehört, die einem passieren konnten, wenn die Borderliner einen erwischten. Viele Männer aus seinem Dorf waren schon gegangen, nur wenige waren drüben geblieben. Jetzt war dieser Bau-Unternehmer gekommen und hatten den Männern des Dorfes angeboten, ihre Passage zu bezahlen, wenn sie drei Wochen lang für ihn arbeiten würden. In Tucson sollte das Sheraton El Conquistadore einen neuen Pavillon erhalten, und er hatte zu wenig Leute und zu wenig Zeit. Danach könnten sie gehen wohin sie wollten.

Von dem El Conquistadore hatte Pejonse schon gehört. Die Leute, die da wohnten, sollten unendlich reich sein und die anderen Männer hatten sich alle ohne zu zögern einverstanden erklärt. Also war auch Pejonse mitgegangen.

Der Eingang zu dem Tunnel lag in einem alten Stollen am Fuße eines kleinen Tals, noch hinter Cananea. Von hier aus konnte man in der Ferne schon die Silhouette von Douglas, der größten amerikanischen Grenzstadt erahnen. Dorthin sollte die Reise gehen. Mitten hinein in die Stadt. Dieser Tunnel endete gut getarnt im Keller eines alten Fabrikgebäudes.

In den Fahrstuhl passten nicht alle Leute auf einmal hinein. Sie fuhren in kleinen Gruppen hinunter. Pejonse befand sich in der letzten Gruppe. Ihm war mulmig bei der Sache, und daher riss er sich nicht um die vordersten Plätze. Die anderen schienen die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen zu wollen, denn als Pejonses Gruppe unten ankam, hatte sich die anderen Gruppen schon auf den Weg gemacht.

Der Tunnel war spärlich erleuchtet, vielleicht alle 20 Meter eine Leuchtstoffröhre und die Luft war stickiger und feuchter als Pejonse sich das vorgestellt hatte. Die Klimaanlage war wohl ein sehr preiswertes Modell. Die Männer gingen dicht gedrängt und Schritt für Schritt ihrem Glück entgegen. Vor ihnen konnten sie gerade noch die Schatten der nächsten Gruppe sehen. Gut 15 Kilometer lang sollte die Strecke sein, die die Männer zurücklegen mussten. Dafür sollte ein kräftiger und gesunder Mann etwa drei Stunden brauchen, nicht mehr.

Sie waren aber gerade erst etwas über zwei Stunden unterwegs, als sie plötzlich weit vor sich lärmendes Schreien hörten. Es war zwar sehr weit weg, aber Pejonse war sicher, dass dort jemand schrie. Er blieb sofort stehen. Sein mulmiges Missbehagen verwandelte sich sekundenschnell in Angst. Dann fielen Schüsse. Dumpf, von Ferne, aber das blecherne Echo im Tunnel war unverkennbar. Pejonse drehte stehenden Fußes um und begann zurückzulaufen. Andere Männer folgten seinem Beispiel und setzten sich ab. Der Lärm schien sich ihnen zu nähern.

Ein Megaphon grölte: „Polizei, bleiben Sie stehen. Sie sind illegal auf amerikanisches Gebiet vorgedrungen.“

Pejonse dachte überhaupt nicht daran stehenzubleiben. Die Amerikaner mussten den Tunnel entdeckt haben, aber sie waren noch weit weg, und zwischen ihnen und denen waren ja noch die anderen Gruppen.

Pejonse war zwar stark und gesund, aber nicht mehr der Jüngste, daher konnte er nicht so schnell laufen. Die amerikanischen Borderliner waren mit Sicherheit schneller als er. Als er sich umdrehte, konnte er schon die Strahlen ihrer Taschenlampen an den Tunnelwänden auf und ab tanzen sehen. Die anderen Gruppen mussten sie wohl schon kassiert haben.

Und wieder rief eine Stimme: „Zum letzten Mal! Stehen bleiben! Polizei!“ Und wieder fielen Schüsse. Doch diesmal waren sie so nah, dass Pejonse spürte, wie der Putz unter dem Kugeleinschlag von der Wand spritze. Die anderen blieben stehen und hoben die Hände. Pejonse auch.

Es würde noch einige Zeit dauern, bis die Polizei sie erreicht hatte. Pejonse dachte heftig nach. Dann zog er ein Stück Kreide aus der Tasche, das seiner Meinung nach jeder Bauarbeiter immer dabei haben sollte und malte einen langen weißen Strich an die Wand neben ihm und einen Pfeil der senkrecht nach unten zeigte.

Die Polizisten konnten das nicht sehen, sie waren noch einige Meter weit weg und zu sehr mit Laufen beschäftigt. Pejonse hob seine Hände wieder und ging langsam und unauffällig zwei Meter weiter zurück. „Kommen Sie langsam und mit erhobenen Händen hier herüber!“ befahl einer der Polizisten, die etwa fünf Meter vor der Gruppe stehen geblieben waren.

Die Männer setzten sich zögernd in Bewegung. „Sie dahinten auch!“ rief einer, doch Pejonse rührte sich nicht.

„Ich kann nicht“, rief er zurück.

Die Polizisten nahmen die anderen Männer in Empfang. Einer hielt die Taschenlampe auf Pejonse gerichtet und rief: „Was soll das? Komm hier herüber, aber schnell.“

„Es geht wirklich nicht“, rief Pejonse beinahe jammernd zurück. „Ach, und warum nicht?“ fragte der Polizist und ging langsam mit erhobener Waffe auf Pejonse zu. „Weil ich dann auf amerikanischem Hoheitsgebiet bin!“ erklärte Pejonse feierlich: „Und das ist verboten.“

Der Polizist stutzte, ging noch näher an ihn heran. „Woher willst du das wissen?“ fragte er. Pejonse zeigte auf den weißen Kreidestrich und sagte: „Siehst du die Markierung nicht. Hier sind wir genau unter der Grenze. Aber ich bin auf mexikanischer Seite.“

Der Polizist leuchtete mit der Stablampe die Markierung an. Dann lachte er: „Glück gehabt, dass eure Schleuser so gewissenhafte Leute sind. Dann kann ich dich wohl auch nicht verhaften, ohne selbst die Grenze zu verletzen.“

„Genau“, sagte Pejonse und lachte zurück.

„Dann sieh zu, dass du nach Hause kommst, bevor wir den Tunnel hier sprengen!“ rief der Polizist, drehte sich um und ging wieder zu den anderen.

Das ließ Pejonse sich nicht zweimal sagen. Für heute hatte er genug Glück gehabt. Nach diesem Reinfall noch zwei Stunden allein in dem dunklen Tunnel, das war zu viel für ihn. Als er endlich wieder das Tageslicht erblickte, wusste er, dass nicht wieder nach Amerika wollte. Nie wieder. Das war wohl eher was für junge Leute mit Nerven aus Stahl.


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