Why or not

Als sie ihn das erste Mal hatte reden hören, war es die leichte Gänsehaut an ihren Unterarmen, die sie so fasziniert hatte.

Achim sprach über die Verantwortung für die nächste Generation, über die Nachhaltigkeit dieser Entscheidungen, über Anstand. Ja wirklich: Er sprach von Anstand. Das war doch politisch längst aus der Mode. Aber es fügte sich in den Satz mit dem er seine Rede beendete: In der Sache progressiv und in der Haltung konservativ. Das war sein Credo. Ein Credo, dass sie in den nächsten Jahren öfter hörte als ihr lieb war.

Nach der Rede war sie der Intuition ihrer Nackenhaare gefolgt, hatte sich nach vorn durchgekämpft und um ein Autogramm gebeten. Es war ihr erstes Autogramm von einem Politiker. Vielleicht war es auch sein erstes Autogramm, denn in der Bezirksliga der Grünen, waren Autogrammstunden eher die Ausnahme.

Es war auch nicht schwer Achim zufällig beim Bezirkstreffen über den Weg zu laufen. In der "Goldenen Ricke" hatten vielleicht vierzig Leute Platz und von der Partei waren gerade mal 12 da.

Aber diese 12 hingen an Achims Lippen und waren bereit ihm auf seinem Weg nach Berlin zu folgen. So wie Charlotte auch.

Gerade mal drei Wochen hatte sie damals gebraucht, um in die Partei einzutreten, zur Kassiererin und zu Achim Muse zu werden.

Weit schwerer war es gewesen ihn ins Bett zu kriegen. Das war aber notwendig um ihrer Beziehung die nötige Tiefe zu geben. Die Tiefe, die für jede zuverlässige und dauerhafte Verbindung zwingend von Nöten war.

Aber mit der Tiefe war das so eine Sache. So mühsam es gewesen war ihn von einer sexuellen Komponente ihrer Beziehung zu überzeugen, so mühsam war es für sie auch gewesen dieser sexuellen Komponente etwas abzugewinnen. Auf Dauer mußte sie feststellen, das sich ihre Nackenhaare nur aufrichteten, wenn sie ihn sprechen hörte. Seine Worte drangen tiefer und heftiger in sie ein, als sein Stachel der Eitelkeiten.

Nach einigen Versuche stellte sie auch die vorsorglich erklärten Höhepunkte ihres Sexuallebens ein. Es machte einfach keinen Eindruck auf ihn. In dieser Hinsicht schien er völlig desinteressiert zu sein.

Nichtsdestotrotz aber verlangte es ihn noch vor seiner ersten Rede auf dem Landeskongresses nach einer amtlichen Bestätigung ihrer, auch zukünftigen Zugehörigkeit zu seinem Stab.

Bei dieser Formulierung hatte sie gelacht. Wie so oft, wenn er versuchte lustig zu sein. Aber das war seine Sache nicht. Klar wollte sie seinem Stab treu sein. Auch wenn es kein Zauberstab, sondern eher der grobe Kolben eines eher untalentierten Mechanikers war.

Egal. Sie war an Bord. Mit der Kraft der ehelichen Rückenstärkung stampfte Achim den Landeskongress in Grund und Boden. Es war das erste Mal, das er über die Feinde der Zukunft sprach. Die Technokraten, die Gewinnler, die Protestanten. Es war diese Ausrichtung auf das Jenseits, die jede Verantwortung für die Gegenwart seiner Meinung nach, zu Nichte machte.

Von nun an hatte sein politischer Gegner ein Gesicht und einen Namen. Die Protestanten. In der Sache aggressiv, in der Haltung konservativ. Und diesmal waren es nicht nur die kleinen Härchen, die sich bei Charlotte meldeten. Achim wetterte mit einer Wortgewalt gegen die Protestanten, das es beinahe die Regeln des politisch korrekten verletzte. Eine Kandidatur für den Bundestag ließ sich nach diesem Abend gar nicht mehr vermeiden.

*

Als man ihm die Kandidatur antrug lehnte er nicht ab. Sie waren inzwischen verheiratet und das Licht der Öffentlichkeit, dass zukünftig auf sie fallen würde verlangte auch von Charlotte Zugeständnisse. Aber es fiel ihr nicht besonders schwer, sich zukünftig in Chanel-Boutiquen einzudecken.

Es stellte sich heraus, dass Achim, was die Kleidung seiner Frau anging, genauso konkreten Vorstellungen hatte, wie in politischen Fragen. Aber das machten einen großen Mann wohl aus, dass er sich immer auch um Detail kümmerte. Wenngleich es Charlotte schwerfiel nachzuvollziehen, warum die Erfindung der Strumpfhose, die Menschheit beinahe ins Verderben gestürzt hätte. Egal, er bestimmte ihre Kleidung bis zur Unterwäsche und Strumpfhosen waren tabu. Es musste immer diese etwas steife und schweißtreibende Unterwäsche aus den Fünfzigern sein. Überhaupt war sein Geschmack in diesem Zeitalter irgendwie stehen geblieben. Das schien die Komponente: In der Haltung eher konservativ zu sein.

Kein Sex und unbequeme Wäsche. Das Leben mit Achim verlangte Charlotte einiges ab. Aber dafür lebte sie als zukünftige First Lady an der Seite eines starken Mannes, eines Potentaten. Wie ihr Vater einer im Kleinen war, aber halt nicht so gewalttätig.

Als Gattin des Bundeskanzlers fragte sie sich oft, ob ihr Mann vielleicht schwul war oder fremd ging. Aber nichts, so gar nichts, gab Anlass zu dieser Vermutung. Er war einfach sexuell nicht interessiert. Das war alles.

Beliebt war Achim nicht. Als Kanzler schon gar nicht. Die Notstandsgesetze wurden auch im Ausland misstrauisch beäugt. Warum die Protestanten jetzt ihre Geschäfte schließen mussten war doch eigentlich klar. So schien es Charlotte zumindest. Das war zum Schutz der Umwelt. Diese Leute hatten doch keinen Respekt vor dem Leben und der Natur. Da musste einfach etwas geschehen und Achim war nur der Mann, der die Kraft besaß so etwas auch umzusetzen.

Sie liebte Achim für diese Kraft. Die heilige und heilende Kraft, deren Quelle niemand wirklich zu kennen schien. Wie konnte ein Mann nur durch seine Worte, die Dinge derart in Bewegung bringen.
Es waren aber die Auswüchse, die manchen Menschen zu schaffen machen. Immer wieder wurde Protestanten auf offener Strasse geschlagen, angespuckt und beschimpft. Das war nicht gut für die Sache, fand Charlotte.

*

Dann kam die Rede 9. November. Ihr Mann schien zum ersten Mal seit sie ihn kannte verunsichert. Das war so ungewöhnlich, dass sie ihn fragte, was los war. Eigentlich sprachen er über solche Dinge nie, aber an diesem Abend fragte er, ob sie ihm einen Gefallen tun könne. Klar konnte sie das. Sie war schließlich seine Frau. Sie musste ihm versprechen, dass sie niemals darüber sprechen würde. Aber das verstand sich für sie von selbst.

Ein wenig Angst hatte sie schon, weil sie ahnte, dass sie jetzt vielleicht sein Geheimnis erfahren würde und warum er sie nicht begehrte. Ihre Nackenhaare sträubten sich während er sprach. Vermutlich war er doch schwul.

Er wollte aber nur, dass sie sich mit entblößtem Gesäß über ihn hockte, während er reglos auf dem Boden lag. Nein, sie sollte ihre Sachen anbehalten. Nur den Rock heben, dass er ihre Scham sehen könnte.

Nichts leichter als das. Natürlich könnte sie hier nicht ewig hocken.

"Und nun piss mich an!" sagte Achim mit einem unvertrauten Tremor in der Stimme.

Charlotte wollte sagen, dass sie das nicht könne. Aber merkte im gleichen Moment, dass sie es schon tat.

"Danke, Mu...!" Das letzte Wort hatte er halb verschluckt. Aber es hatte sich für Charlotte sehr nach "Mutter!" angehört. Er legte sich die nassen Haare mit einem breiten Scheitel zur linken Seite. Sie wirkten, wie frisch gegeelt. Und so blieben sie auch während seiner ganzen Rede so in Form.

An diesem Abend führten seine Worte dazu, dass alle Geschäfte von Protestanten in ganz Deutschland gestürmt und zertrümmert wurde. Aber damit nicht genug, man beschloss, diese geschäftstüchtigen Protestanten zukünftig eigene Wohnviertel zuzuweisen. Weit weg von den Schalthebeln der Macht, die sie so schamlos ausgenutzt hatten. Die, die ihre Interessen gegen die der Natur, der Allgemeinheit, des deutschen Volkes durchzusetzen versuchten.

Das Erstaunlichste an diesem Abend war aber, dass die Medien sich weit weniger, um die Gewalt auf den Strassen kümmerte, als um die verblüffende neue Frisur des Kanzlers. Ein modischer Geniestreich. Darin waren sich alle einig. Ein Bild von einem Mann, einem dem man vertrauen konnte. In der Sache dem Fortschritt verpflichtet, in der Haltung eher konservativ, fast schon demütig. Fortan richtete Charlotte seine Frisur vor jeder seiner Reden. Nicht nur vor den Wichtigen. Und seine Frisur und sein Bart wurde schon bald zu seinem Markenzeichen. Ein klarer Ausdruck seiner Persönlichkeit.


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