Der Strandgipfel

Heute war er früh genug. Ein wunderbarer Platz inmitten des hellgelben, fast weißen, feinkörnigen Strandes. Leicht erhöht, auf einem von wem auch immer aufgeschütteten Haufen, klappte er den Liegestuhl auf. Noch war die Luft lau, hatte nichts von dem Brüten, das zur Mittagszeit einsetzen würde. Zeit genug, ein wenig zu lesen, zu dösen, bis der Strand sich füllen würde. Henry griff in seine Kühlbox und zog einen Elephanten heraus. Es wunderte ihn ein wenig, dass er es heute so früh aus dem Bett geschafft hatte, nachdem er gestern bis spät in die Nacht in der kleinen blaugestrichenen Bar am Ende der Promenade versackt war. Frozen Margaritha!

Kaum dass er zwei Schlucke getrunken hatte, tauchte eine dieser Ökolabermat-Tucken neben seinem Liegeplatz auf. Man erkannte sie leicht. Sie trugen schon wieder diese Hosen mit Schlag und irgendein magisches Symbol um den Hals, meist an einer langen schweren Kette oder einem Lederriemen. Die zogen sich eh nie aus, behielten immer irgendwas an, hatten Angst vor der Sonne. Vor dem Ozon oder so. Doch kein guter Platz hier, oder? Die Tucke grinste ihn an, warf ihr Handtuch aus und nickte freundlich. Er winkte mit seiner Bierdose zur Begrüßung zurück. Ihr Lächeln erstarb im Ansatz. Einen Moment lang schien sie unschlüssig, dann hatte sie wohl beschlossen, sich besser nur um sich selbst zu kümmern und setzte ihre Sonnenbad-Vorbereitungen fort. Humorlos. Tucken sind einfach humorlos. Henry machte sich nicht die Mühe, sie weiter zu beachten, schob seine Baseballkappe ein wenig tiefer ins Gesicht und zog einen entspannenden kühlen Schluck aus der Dose.

Sein Blick glitt über die schaumgekrönten Brecher hinweg zum Horizont. Er hatte nichts weiter zu tun, als hier zu sitzen und zu beobachten, wie der Strand sich füllte. Er entdeckte die blasse, fette Amerikanerin mit dem Rüschchen-Badeanzug, ihrem weißen Leinenhut, ihrer gewagt geschnittenen Sonnenbrille. Die drei Studentinnen, die schon seit drei Tagen hier auf Männerfang waren. Den weitgereisten Abenteurer, der den Namen einer Yacht auf dem T-Shirt trug. Die Arzt-Familie aus Belgien, die seit zwei Wochen kein Stück braun wurde. Wahrscheinlich weil sie sich mit Beta-Blockern einrieben. Den Rettungsschwimmer, der hier ewig herumlungerte und darauf wartete, dass eins der jungen Hühner ins Wasser hüpfte. Dann rettete er sie völlig überflüssigerweise vor den angeblichen Gefahren der Wassermassen und kassierte jedes Mal eine Zimmernummer dafür. Dann waren da die beiden Lesben. Die saßen heute links vor ihm und waren wie immer nur mit dem Einölen beschäftigt. Was anderes taten die doch zu Hause auch nicht.

Allmählich waren sie alle wieder da. Ein paar neue. Ein paar nicht mehr. Aber im Großen und Ganzen die alte Szene. Beachballer an dem kleinen Feld vorne am Wasser. Die Jugendclique links hinter Henry. Die ganze Bandbreite menschlicher Körper. Henry ließ den Blick genüsslich schweifen. Inzwischen war es längst Mittag geworden. Und heiß. Wer einen Schirm hatte, spannte ihn auf. Die anderen trieben sich die Hitze feucht durch die Haut wieder aus.

Die Amerikanerin ließ sich von dem jungen braunen Knackarsch aus dem Kiosk gerade das dritte Eis bringen und bezahlte es wieder mit einem Schein, den der Kleine erst wechseln gehen musste. Die Lesben probierten derweil die dritte Bodylotion aus. Am Netz streckten sich die Mädels mit durchgedrücktem Kreuz zu einem weiteren erfolgreichen Block. Und die Jungs auf der anderen Seite erwarteten in zu tief gebückter Haltung mit hart gespannten Hinterbacken ihren nächsten Aufschlag. Es wurde immer heißer.

Die Kids hinter Henry hatten noch die Energie, sich zu raufen. Ihre fett- und schweißglänzenden Körper wunden sich umeinander, ineinander, verrenkten und verhakten sich. Henry sah genau, wie einer der Jungen, eines der Mädels, das ihn mit Wasser bespritzt hatte, zu Boden geworfen und ihr dabei beiläufig an die Brüste gefasst hatte. Ganz unabsichtlich natürlich. Doch sie hatte es auch gemerkt und simulierte einen Schlag zwischen seine Beine, der mit Wohlwollen auch als Tätscheln betrachtet werden konnte. Alles eine geile Schweinerei. Aus dem Wasser stieg eine silberhäutige Nixe und schüttelte ihr Haar aus. Die Tucke nuckelte versonnen an ihrer Mineralwasserflasche, statt zu trinken. Etwas weiter vorne hatte eine Mittdreißigerin ihr Bikini-Oberteil abgenommen, es zum Schutz vor der Sonne auf ihren Augen platziert. Ihre Brüste bedeckte sie derweil mit den Händen ab, die sie sanft rotierend darüber hin- und her gleiten ließ. Ganz sicher um keine Nahtstellen in der Bräunung zu bekommen. Die Belgier kauten auf vorgebratenen Hähnchenkeulen herum. Hinter Henry schrie eine Frau. Jemand hatte ihr einen Eiswürfel aus der Bar ins Dekolleté geworfen.

Immer wieder zog eine Gruppe halbnackter, durchgebräunter, hartgestählter Körper vorbei. Vielleicht auf dem Weg zu einem anderen Strandabschnitt. Ärsche wackelten, Titten hüpften, Haut glänzte, Beine stampften, Körper rollten sich verschlungen über den Strand, rieben sich den Sand von öliger Haut. Hände massierten, Stimmen quiekten vor Freude, Vorfreude. Zimmernummern, Öl, Titten, Ärsche und immer ein Nuckeln rechts neben ihm. Kreischen, Bikini weggerissen. Gestreckte Körper, steife Brustwarzen stachen Löcher in die Luft. Beine, gekreuzt, gestreckt. Ärsche, rund, gestreckt, bewegt, geölt. Brüste, wabernd, gestreckt, hüpfend, gebräunt, geölt. Körper, glitschig, gleitend, reibende Bewegung. Sonne. Heiß. Warmgewordener Sprudel spritzte aus der Flasche, der Tucke in die Nase. Piz Buin. – Piz Buin.

„Eh, guckt euch mal das Arschloch an!“ schrie jemand dicht hinter Henry.

Henry konzentrierte seinen Blick auf die Stimme. Direkt neben ihm stand einer der Jugendlichen aus der raufenden Clique.

„Der Scheißtyp holt sich hier einen runter!“ Henry zog die Hand aus dem Seitenschlitz seiner Shorts. Zwei Mädchen kreischten. Die Tucke sah aus, als ob sie sich noch im gleichen Moment übergeben müsste.

„Das Schwein“, kam es aus mehreren Kehlen.

„Was willst du von mir, du kleines Arschloch?“ fragte Henry. Der Junge schlug Henry mit der flachen Hand auf den Oberarm: „Verpiss dich hier, du Wichser.“

Gleich kamen noch ein paar seiner Kumpels auf Henrys Stuhl zu. „Los, hau ab. So was brauchen wir hier nicht!“

Die Mädels kreischten hysterisch, alle, die Ohren hatten, schauten Henry an. Entsetzt, versteht sich. Sie warfen mit Sand und Dosen nach ihm.

Es war ihm egal, er hatte genug für heute. Rasch griff er nach seiner Kühltasche mit den restlichen Elephanten und trabte den Strand hinab. Das Gekeife der Jugendlichen und die verachtenden Blicke der anderen Strandnachbarn verfolgten ihn noch etliche Meter. Dann konnten sie sich endlich weiter ölen und aalen. Alles eine geile Schweinerei, dachte Henry, ein bisschen weiter da unten würde sich schon ein ruhiges Plätzchen finden. Und morgen war ein neuer Tag.


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