Die ersten beiden Stufen waren noch leicht, dann lag die geballte Dunkelheit vor ihm. Er griff hinter sich. Irgendwo hier musste ein Lichtschalter sein. Richtig. Unten, hinter der Ecke, am Fuß der Treppe, flammte eine Glühbirne auf. Mischa stapfte tapfer die Treppen hinunter. Unten blieb er stehen und lugte vorsichtig um die Ecke. Niemand da. Nichts, wovor man sich fürchten musste. Die einzelne nackte Glühbirne warf harte, zackige Schatten auf den Boden. Überall ein gutes Versteck – nicht nur für Eier. In jeder dieser Ecken konnte alles Mögliche sein. Mischa ging ein wenig weiter in den Raum hinein. Es war unheimlich hier. Aber typisch für seinen Vater. ‚Du musst immer nur stärker sein als deine Angst.‘ Ja, der hatte gut reden, er war ja auch nicht allein hier unten. Mischa dachte nach, stellte sich vor, wie sein Vater hier unten die Eier versteckt haben musste. Da war er auch allein hier unten gewesen. Und ihm war nichts passiert. Jetzt saß er oben bei Großmutter und trank in aller Ruhe heißen Kaffee zum Frühstück.
Vorsichtig begann Mischa sich umzusehen. Er schaute auf die Regalböden an der Seite, öffnete die alte Kommode. Sie war voller angerostetem Werkzeug und Blechen. Das war der Teil des Kellers, in dem Opa früher seine Bastelarbeiten erledigt hatte. Auch die Regale waren vollgepackt mit Werkzeugen. Die einzige Möglichkeit, unauffällig ein Eiernest zu platzieren, war im Schatten der Lampe unter der Kommode. Mischa zögerte einen Moment, dann ließ er sich zu Boden fallen, schielte kurz unter die Kommode – nichts. Völlige Dunkelheit. Er sprang wieder auf und schüttelte sich. Nicht für alle Eier dieser Welt würde da seinen Arm hineinstecken und nach Dingen fischen, die ihn dort schon erwarten würden. Er stellte sich vor, wie sein Arm hineingezogen würde in das schwarze Nichts. Vielleicht würde er sogar abgerissen oder was noch schlimmer wäre, er würde im Ganzen verschlungen.
‚Nichts ist hier!‘ rief er sich selbst zu und beschloss, wieder hinauf zu gehen. ›Und wenn, dann konnten die Eier hier liegenbleiben bis sie schimmelten.‹
Gerade hatte er wieder den Fuß der Treppe erreicht, da fiel sein Blick auf die Tür zur Waschküche. Sie stand offen. Vom hinteren Kellerausgang zum Hof hin fiel etwas Licht hinein. Das war weit weniger beängstigend. Er suchte die Waschküche ab. Nur Großmutters Wäsche hin auf der Leine. Wäre es noch ein wenig düsterer hier gewesen, so wie in dem anderen Keller, dann hätte er sicherlich Angst vor diesem beigen Torso gehabt, der da steif an der Leine baumelte. Daneben ein Büstenhalter, groß genug ein ganzes Nest mit Eiern zu verbergen. Mit spitzen Fingern drehte Mischa den BH herum. Die Schalen waren leer. Dann untersuchte er den Torso. Auch dort war nichts. Sonst hingen hier nur einige Strümpfe und ein Nylonkittel. Er schaute in den Taschen des Kittels nach. Nichts. Die ganze Mühe schien vergeblich.
Die Waschmaschine. Er schaute in die Trommel. Leer. Dahinter. Unter dem Becken. Das war’s. – Auch hier nichts. Also doch wieder nach oben. Bislang hatte er es geschafft, die kleine Kammer am hinteren Ende des Kellers gewissenhaft zu ignorieren. Mischa wusste was dahinter war. Ein kleiner, mit Schränken vollgestopfter Raum. Dort war er einmal mit seinem Vater gewesen, um Sachen für die Kleidersammlung zu holen. Damals hatte sein Vater die Tür zu einem der Schränke geöffnet und darin hatte ein lebensgroßer Teddybär gesessen. Lebensgroß jedenfalls seinerzeit. Inzwischen war Mischa ja gewachsen. Jedenfalls hatte er sich dermaßen erschreckt, dass er schreiend nach oben gelaufen war, wo seine Mutter ihn nur mühsam mit Hilfe einer ganzen Tafel Schokolade beruhigen konnte, die er noch unter Tränen in sich hineinstopfte.
Jetzt wusste Mischa, wo sein Vater die Eier versteckt hatte. Trotzdem wollte er diese Tür nicht öffnen. Auf gar keinen Fall! Unschlüssig ging er auf sie zu. Der Lichtschalter war außen. Er konnte da drinnen Licht anmachen, ohne die Tür zu öffnen. Mischa bewegte den Schalter. Unter der Tür fiel ein schwacher Lichtschein durch. So der Raum war hell, das würde sie vertreiben. Jeden. Wer auch immer sich in dem Raum befinden mochte. Eine ganze Zeit lang beobachtete Mischa das Licht unter der Tür. Wenn sich da etwas bewegte, musste er es sehen. Nichts bewegte sich. Zaghaft drückte die Klinke herunter, dann stieß er die Tür heftig und mit Wucht auf. Krachend flog sie gegen einen der Schränke an der Wand.
„Mischa, ist alles in Ordnung?“ rief seine Mutter die Treppe hinunter.
„Ja, doch“, antwortete Mischa und war froh zu wissen, dass er nicht wirklich allein war. Wenn hier etwas nicht in Ordnung wäre, käme ihm seine Mutter sicher sofort zu Hilfe.
„Mach keinen Unsinn da unten, hörst du!“
„Bestimmt nicht. Hab nur die Tür nicht festgehalten.“
„Und komm bald hoch zum Frühstücken, du kannst ja später noch weitersuchen.“
„Ja, gleich.“ Aber den Keller wollte Mischa erst noch hinter sich bringen. Dazu hätte er später sicherlich nicht noch einmal den Mut. In dem Raum vor ihm hatte sich nichts bewegt, nichts war geschehen. Er ging hinein. Die Schranktür mit dem Bären dahinter war gleich neben der Tür links. Mischa öffnete sie und hielt dabei den Atem an. Er war gut vorbereitet und würde sich nicht wieder von einem Stofftier erschrecken lassen. Tatsächlich, der Bär saß noch genauso da, wie das letzte Mal. Nur viel kleiner natürlich. Und auch seine Augen schauten nicht mehr so böse, sondern nur noch traurig. Mischa öffnete die beiden Flügel des Schrankes vollständig, was nicht ungefährlich war, denn sie versperrten ihm so den Fluchtweg. Eine ganze Reihe alter Mäntel hing auf der Stange. Es roch stark nach Naphthalin und Kleidermief. Mischa war enttäuscht. Er hatte erwartet, dass sich direkt vor dem Bären ein kleines grünes Nest mit Krokant-Eiern befinden würde. Oben, über der Kleiderstange lag eine Menge Wäsche gestapelt. Mischa kletterte auf den schmalen Absatz vor den Türen und fischte mit der Hand zischen den Wäschestücken herum. Und Glück gehabt, da war tatsächlich etwas. Eine harte Box. Mischa zog sie aus dem Stapel. Eine ganz volle Packung mit Schokoladenostereiern. Hatte er es doch gewusst, dass sein Vater sie hier verstecken würde. Eine ganze Packung! – Stimmte nicht ganz. – Ein Ei fehlte. Und es waren auch keine Krokant-Eier. Es waren welche mit Alkoholfüllung. So was mochte Mischa doch überhaupt nicht. Gemeinheit! Für so viel Stress nur so blöde Eier. Egal, Mischa stopfte sie in seine Sammeltüte zu den anderen Eiern und gut. Dann warf er genervt die Schranktüren zu, dass der Teddy heftig erzitterte und ging nach oben zum Frühstück.
Sebastian grinste seinen Sohn fröhlich an, als der sich mit seiner Sammeltüte und versteinerter Miene an den Tisch setzte. Der kleine Mann war tapfer in den Keller gestapft und hatte dort gesucht. Sebastian wusste, dass sein Sohn ängstlich war, was den Keller anging. Und jetzt, wo er dort unten nichts gefunden hatte, ärgerte er sich über sich selbst.
„Na, ordentlich eingesackt?“ versuchte er Mischa aufzumuntern.
„Geht so“, knöterte Mischa zurück. Damm machte er sich über ein Marmeladenbrot her, das Helen ihm geschmiert hatte.
„Wo Vater wohl bleibt?“ fragte Mischas Oma kopfschüttelnd über den Tisch hinweg. Helen schaute drohend zu Sebastian, weil sie wusste, was er jetzt sagen würde. Aber Sebastian tat es trotzdem: „Vater ist tot, Mutter. Und das schon seit zehn Jahren.“
„Trotzdem könnte er jetzt zum Essen herunterkommen, der Kaffee wird doch kalt.“ Sie nippte an ihrem Becher.
„Mutter! Er ist …“
„Wenn er Hunger hat, wird er schon runterkommen“, unterbrach Helen, Sebastians 200. Versuch, seiner Mutter die fortwährende Abwesenheit seines Vaters zu erklären.
„Wenigstens zu Ostern könnte er pünktlich sein«, murmelte Mischas Großmutter halblaut zu sich selbst. Helen hielt Sebastians Arm fest. Sein Blick war wie versteinert. Er konnte einfach nicht verstehen, dass seine Mutter seit ihrem Schlaganfall, den sie bei der Beerdigung ihres Mannes erlitten hatte, manchmal den Euklidischen Raum verließ und sich geistig in ganz eigenen Sphären aufhielt.
„Reg dich bitte nicht auf!“ zischelte Helen Sebastian zu und hoffte, dass sich die plötzliche Blässe in Sebastians Gesicht recht bald wieder verziehen würde.
„Hast du denn heute gar keine Eier gefunden?“ säuselte die Großmutter und Mischa zeigte lässig auf die Tüte neben sich.
„Aha. Ist da denn auch eins für mich dabei?“
Mischa wusste, dass seine Großmutter Schoko-Eier über alles liebte und wenn er nicht achtgab, würde sie ihm die Tüte leerfressen, bevor er seine Marmeladenbrot auf hatte. Und davor durfte er ja selbst keine essen.
„Gib deiner Großmutter auch ein Ei“, forderte Sebastian, der sich allmählich wieder beruhigte, seinen Sohn auf. Mischa reagiert nicht sofort und schon versuchte die Großmutter, sich selbst aus der Tüte zu bedienen. Mit einem schnellen Griff ließ Mischa die Tüte unter dem Tisch verschwinden.
„Mischa!“ rief seine Mutter ärgerlich. „Das ist nicht nett.“
„Komm schon, Mischa. Gib der Oma ein Ei ab.“
„Sie soll sich ihre Eier selber suchen.“
„Mischa! Du bist unhöflich! Oma ist viel zu alt zum Eier suchen und ein Ei kannst du doch wohl entbehren, sonst …“
Das ‚sonst‘ wollte Mischa erst gar nicht wissen. Es lief ja doch immer auf dasselbe hinaus. Mischa sammelte und die Oma aß. Dann erinnerte sich Mischa an die Schnaps-Eier, die mochte er ja sowieso nicht. Wahrscheinlich waren die extra für die Oma gedacht. Mischa griff in die Tüte, öffnete die Verpackung und legte der Großmutter eines der Eier auf Teller.
„Das ist lieb von dir, mein Kleiner“, flötete die Oma und wickelte in affenartiger Geschwindigkeit das Ei aus. Ein saugendes ‚happ‘ und das Ei war komplett verschwunden. Mischa erwartete, dass sie schon mit vollem Mund nach dem nächsten verlangen würde. Aber das tat sie nicht. Genussvoll trank sie einen Schluck Kaffee, nachdem sie das Ei fast im Stück herunter geschlungen hatte. Dann war sie wohl auf den Geschmack gekommen. Sie bat Helen, ihr aus dem Schrank einen Schluck Eierlikör zu holen. Nur ein kleines Schnapsgläschen voll, versteht sich. Kaum dass sie an dem dritten Gläschen nippte, schaute sie Mischa, der immer noch mit seiner Stulle kämpfte, erwartungsfroh an. Mischa wartete nur darauf, dass sich ihr Mund öffnete und sie nach dem nächsten Ei fragte. Mischa war es egal, er hatte ja noch genug von den Schnaps-Eiern.
Dann öffnete sie den Mund, aber sie fragte nicht nach dem Ei. Sie sagte eigentlich überhaupt nichts. Sie schnappte nur nach Luft, lief blau an, krächzte einen unbeschreiblichen, gurgelnden Laut heraus, lief dann lila an und kippte langsam und steif seitlich vom Stuhl, nicht ohne den halben Kram vom Tisch mitzunehmen.
Sebastian sprang auf. Helen schaute hinunter zur Oma. Sie lag mit offenem Mund und offenen Augen auf dem Bauch und rührte sich nicht mehr. Mischa vergaß zu kauen.
„Mutter!“ Sebastian stürzte um Helens Stuhl herum. Er sah die Oma dort liegen, sagte nichts mehr und fühlte nur den Puls.
„Ich rufe einen Arzt“, rief Helen und stürmte hinaus zum Telefon.
Sebastian wollte sie aufhalten, aber er schaffte es nicht rechtzeitig genug zu sagen: „Sie ist tot.“
Für Kommissar Bruhns war Ostern ein besonderes Fest. Zugegeben es waren weniger Feiertage als Weihnachten, aber dafür hatte man wirklich frei. Im Gegensatz zum Heiligen Abend und seinen Folgetagen, waren die Osterfeiertage in der Regel tragödienfrei. Familien, die sich noch zu Weihnachten mit gezücktem Messer gegenüberstanden oder versucht hatten sich gegenseitig mit Gänsekeulen zu erschlagen, verbrachten Ostern meist weit voneinander getrennt und also friedlich. Daher konnte auch Bruhns sich darauf freuen endlich seine Aufzeichnung des letzten Pokalspiels ohne Unterbrechung zu sehen. Außerdem war da noch das Video vom Finale in Melbourne, das seit drei Monaten auf ihn wartete. Dass er die Ergebnisse bereits kannte, störte ihn nicht. Überraschungen erlebte er bei der Mordkommission genug, da war es eher erholsam, ein Spiel zu sehen, von dem alle Welt schon wusste, wie es enden würde.
Bruhns hatte noch nicht einmal die Kassette rausgesucht, da klingelte schon das Telefon. Automatisch ging Bruhns zur Garderobe und zog sich seinen Mantel über, bevor er den Hörer abnahm. Er hatte keine Freunde, keine Verwandten und wenn sich nicht jemand verwählt hatte, dann wusste er, dass er raus musste.
„Haider? – Ja, ich hab mir schon so was gedacht. – Wo? – Bei den Martens? – Und ob ich die kenne. Mein Gott, es ist Ostern! – Was das heißen soll? Na, das können Sie nicht wissen, das war vor ihrer Zeit. – Gut, Haider, wir sehen uns dort in zehn Minuten. – Ja, ich hab die Adresse.“
Bruhns hatte die Adresse im Kopf. Auf den Tag genau vor zehn Jahren, am Ostersonntag, war er schon mal dort gewesen. Das war bisher das einzige andere Osterfest, das Bruhns nicht hatte in Ruhe begehen können. Dieses nicht mitgerechnet. Die Martens waren anders als andere Familien. Sie schienen ein Faible dafür zu haben, ihr persönliches Weihnachten auf Ostern zu verlegen.
Mit seinem graugrünen Opel fuhr Bruhns auf den Randstreifen vor dem alten Backsteinhaus. Haider wartete bereits in der Haustür auf ihn.
„Klarer Fall von Vergiftung“, rief er Bruhns entgegen.
Bruhns ging nickend an ihm vorbei in das Haus.
„Weiß ich schon“, sagte Bruhns.
„Was? Woher das denn?“ fragte Haider verwirrt. Doch Bruhns antwortete ihm nicht. Der Amtsarzt war im Speisezimmer über die Leiche gebeugt. Etwas beiseite stehend, erwartete die restliche Familie seinen Befund. Wenngleich völlig klar, dass Mutter Martens tot war.
„Blausäure“, sagte der Arzt sachlich. „Genau wie beim letzten Mal.“
„Was für ein letztes Mal?“ fragte Haider, der Angst hatte, irgendwas verpasst zu haben.
„Vor zehn Jahren!“ erklärte Bruhns. „Zu Ostern, versteht sich. Vor zehn Jahren genau lag Vater Martens dort. Vergiftet. Mit Blausäure.“ Bruhns schüttelte Sebastian die Hand. „So sieht man sich wieder.“
„Ich verstehe das überhaupt nicht, sie saß da und plötzlich …“
„So geht das meistens. Was hat sie denn zu sich genommen?“
„Da steht noch ein Kaffeebecher!“ Haider deutete auf den Platz der Großmutter.
„Und Eierlikör!“ Bruhns hob mit einem Tischtuch die Flasche hoch. „Das hätte ich mir denken können. Genau wie damals. Und ich bin ganz sicher, wir finden auch diesmal wieder keine Spuren von Blausäure in der Flasche oder dem Glas.“
„Mysteriös war das damals“, erinnerte sich der Arzt versonnen. „Ist nie aufgeklärt worden, der Mord, nicht wahr?“
„Nicht wirklich, nein“, gab Bruhns widerstrebend zu. „Kein Beweis. Nur ein Verdacht, ein paar Indizien, aber keinen einzigen handfesten Beweis.“
„Wenn es der gleiche Täter war, dann muss er doch in beiden Fällen eine Gelegenheit gehabt haben. Er muss da gewesen sein«, folgerte Haider zielsicher.
„Es waren damals nur zwei Personen anwesend“, grunzte Bruhns. „Sebastian Martens und seine Mutter. Aber die Mutter ist nun auch tot.“
„Na, dann kann es ja nur Sebastian gewesen sein“, rief Haider fröhlich, denn er liebte Fälle, die sonnenklar waren und sich schnell lösen ließen.
„Nicht ganz“, fuhr Bruhns fort. »Sebastian war zwar damals da, aber er hat trotzdem ein Alibi. Er lag mit gebrochenem Bein und Streckverband oben im Bett. Er konnte auf keinen Fall allein die Treppe hinunter.“
„Was soll das?“ rief Helen. „Das ist doch kompletter Unsinn! Warum sollte mein Mann wohl seine Eltern umbringen?“
„Sein Vater war ein Despot. Jeder im Ort wusste Bescheid. Das ewige Gesaufe und das Schlagen. Die Polizei war doch alle Naslang im Haus. Jeder hatte Verständnis dafür, dass diese Familie ihren Vater loswerden wollte“, sagte der Arzt.
„Nur hatte niemand Verständnis für die Art, auf die das dann geschehen ist“, setzte Bruhns hinzu.
„Das ist absurd. Warum sagst du nichts, Sebastian?“ rief Helen empört. Doch Sebastian schwieg nur blass.
„Und jetzt, wo seine Mutter immer sonderlicher wurde, hatte er vielleicht Angst, sie könnte ihn verraten. Wahrscheinlich wusste sie Bescheid.“
„Haider, das ist Unsinn. Aber wie dem auch sei, ich muss Sie wohl mitnehmen. Dringender Tatverdacht. Sie verstehen?“
Sebastian nickte wortlos.
„Können wir die Leiche jetzt einpacken?“ fragte der Bestatter, der schon eine einige Zeit in der offenen Tür gewartet hatte, ob er vielleicht Zeuge eines überraschenden Geständnisses würde.
„Aber ja. Doktor! Machen Sie so schnell wie möglich eine Obduktion. Haider, Sie nehmen alles, was auf dem Tisch steht, mit ins Labor. Und Sie Herr Martens, folgen mir jetzt bitte.“
„Mach dir keine Sorgen!“ rief Helen ihrem Mann hinterher. „Ich rufe gleich bei Dr. Sulzberg an, der hat dich in Nullkommanix wieder frei.“
Dr. Sulzberg hatte es vorgezogen über Ostern zu vereisen und so saß Sebastian den zweiten Tag in Untersuchungshaft. Sein Gesicht stoppelte und er wartete auf die nächste Vernehmung durch Bruhns. Helen hatte ihn mehrmals besuchen können, aber sie schaffte es nicht, ihn wirklich aufmuntern.
„Die Untersuchungsergebnisse sind da“, frohlockte Bruhns, als er das Vernehmungszimmer betrat. „Das Gift war im Eierlikör.“
Bruhns stützte sich vor Sebastian auf und beobachtete ihn aufmerksam.
„Warum hat sie das getan?“
„Was getan?“ fragte Bruhns neugierig.
„Sich das Leben genommen?“
„Hah!“ lachte Bruhns energisch auf. „Nein, nein, nein, mein Lieber. Das war kein Selbstmord. Auf gar keinen Fall.“
„Ich war’s aber auch nicht.“
„Da bin ich mir schon mal nicht so sicher.“
„Ich hab meine Eltern nicht umgebracht, das wissen Sie doch. Ich hab damals im …“
„Ja, ja, im Streckverband. Wollen Sie mal meine Theorie hören?“
„Eine Theorie? Eine andere als …“
„Sie haben ihren Vater nicht umgebracht. Ihre Mutter war’s!“
„Das ist nicht neu. Das haben Sie schon damals vermutet. Und schon damals war diese Theorie falsch.“
„Nein, die Theorie war richtig. Ich konnte sie nur nicht beweisen. Es ist genau wie bei diesem Mal. Das Gift war im Eierlikör. Aber weder in dem Glas, noch in die Flasche konnten wir Rückstände nachweisen. Dass ihre Mutter ihren Vater umgebracht hat, stand für mich immer außer Frage, aber wir konnten nie klären, wie sie ihm das Gift zugeführt hat. So hätte das niemals zu einer Verurteilung gereicht.“
„Na und?“
„Jetzt sieht die Sache hingegen ganz anders aus. Ihre Mutter ist auf genau dieselbe Art ums Leben gekommen wie Ihr alter Herr. Also hat jemand herausgefunden, wie sie ihm damals das Gift verabreicht hat. Und dieser jemand hat es dann bei ihr ganz genauso gemacht. Aus Rache vielleicht?“
„Und dieser jemand soll wohl ich sein, ja?“
„Wüssten Sie jemanden besseres?“
„Ich sag Ihnen aber, ich war’s nicht.“
„Ob Sie es nun waren oder nicht. Irgendwie muss das Gift ja in ihre Mutter gekommen sein, nicht wahr? Vielleicht könnten Sie mir dazu ja etwas sagen?“
„Es war niemand außer uns da. Niemand hat ihr irgend… Die Eier!“ rief Sebastian plötzlich. „Um Gottes willen, die Eier!“
„Was denn für Eier?“
„Himmelherrgott, schnell!“ schrie Sebastian Bruhns an und wollte aufspringen und zur Tür laufen. Doch Bruhns war flinker. Er hatte Sebastian am Arm gepackt und hielt fest.
„Was für Eier, will ich wissen!“
„Mein Sohn. – Die Ostereier. – Sie hat eines gegessen. Ich glaube er hat sie noch. Wir müssen sofort hin!“
„Blödsinn, das Gift war im Eierlikör. Wir haben die Reste in der Speiserö…“
„Wir müssen da hin, bevor er auch so ein Ei isst.“
Bruhns schien auf einmal zu verstehen, was Sebastian meinte. Er ließ den Mann los und sie spurteten zu seinem Auto. „Sie haben einige Schokoeier präpariert, nicht wahr? Und ihr Sohn hat sie vom Tisch genommen, als wir…“
„Können wir das nicht später klären?! Jetzt will ich zu meinem Sohn, wenn’s recht ist!“
Ein Blaulicht war in dem kleinen Ort nicht notwendig. Es registrierte auch so jeder den Wagen des Kommissars, der mit quietschenden Reifen vor dem Haus der Martens hielt. Die beiden Männer stürmten hinein. Helen hatte Mischa vor dem Fernseher mit einem Jurassic-Park-Video ruhiggestellt. Als sein Vater hysterisch ins Wohnzimmer sprang, wollte Mischa sich gerade genüsslich sein letztes Mandel-Sahne-Ei einverleiben. Starr vor Schreck hielt er das Ei noch vor dem offenen Mund. Sein Vater sagte kein Wort, machte aber zwei große Schritte und schlug ihm das Sahne-Ei mit weit ausholender Bewegung aus der Hand. Das Ei zerplatzte an der Wand dicht neben dem Fernseher und Mischa sah mit rot anschwellender Hand, wie die flüssigweiche Füllung an einem dicken Faden die Blümchen-Tapete hinab lief. Verständnislos starrte Mischa seinen Vater an.
„Gib mir die Eier!“ Im Alter schienen viele Erwachsene dazu zu neigen, sich die schlechten Angewohnheiten ihrer Eltern anzueignen. Aber jetzt übertrieb sein Vater wirklich. Instinktiv zog Mischa seine dreiviertelleere Tüte zurück. Das waren seine Eier.
„Gib her!“ brüllte Sebastian völlig außer Kontrolle. Er riss Mischa die Tüte aus der Hand. Aber Mischa hielt fest. Die Tüte riss auf und die knapp 30 übrigen Schoko-Eier flogen wie aus einem Knallbonbon in alle Richtungen in den Raum. Sebastian und der Kommissar sprangen wie die Irren hinter den Eiern her, und jeder grapschte sich so viele er nur konnte. Mit entgeistertem Blick verfolgte Mischa, wie die Erwachsenen um ihn herum allmählich verrückt wurden.
„Was soll denn das?“ fragte Helen, als sie sah, wie die Männer über den Boden robbten und Schoko-Eier aufsammelten.
„Die Eier!“ rief Sebastian.
„Die sind vergiftet“, keuchte Bruhns. „Beinahe hätte ihr Mann auch noch seinen eigenen Sohn umgebracht.“
„Quatsch, ich habe doch selbst zwei von den Eiern gegessen“, erklärte Helen.
„Ihr Glück, dass nichts passiert ist. Sonst hätte er Sie alle auf einen Schlag erledigt.“
„Jetzt reicht’s mir aber. Ich hab niemanden umgebracht! Das hab ich schon x-mal gesagt.“ Sebastian stand wütend mit zwei Händen voll Schoko-Eiern vor dem Kommissar und hätte am liebsten noch mal kräftig ausgeholt, wenn er nur gekonnt hätte.
„Ach ja!“ giftete Bruhn triumphierend und hielt eines der Eier mit roter Folie hoch. „Und das hier? Eierlikör!“
„Ich hab dieses Ei noch nie zuvor gesehen!“ versicherte Sebastian empört.
„Aber Sie wussten, dass es vergiftet war. Woher denn wohl?“
„Ich hab es mir gedacht, weil …“
„Mit ihrem Vater haben Sie es ganz genauso gemacht. Dafür brauchten Sie gar nicht aufzustehen. Sie haben ihm einfach zum Frühstück so ein Ei mitgegeben“, fuhr Bruhns ungerührt fort.
„Hab ich nicht! Ich hab diese Eier noch nie …“
„Das sagten Sie bereits“, würgte ihn Bruhns gleich wieder ab. „Wie haben Sie ihren Sohn dazu gebracht, ihrer Mutter diese Eier zu geben?“
„Sebastian!“ fuhr jetzt auch Helen dazwischen. „Bist du verrückt? Wenn nun Mischa eins davon gegessen hätte?“
„Ich mag doch gar keine Schnaps-Eier“, sagte Mischa, der die Aufregung und überhaupt nichts von alledem verstand.
„Aha! Sie haben Sie irgendwo versteckt. Ihr Sohn findet sie. Gibt sie der Großmutter, weil er sie ja sowieso nicht mag und Sie sind fein raus“, hakte sich gleich wieder Bruhns fest.
„Nein, verdammt! So war’s nicht. Mischa!“ Sebastian sah seinen Sohn ernst an. „Woher hast du diese Eier?“
„Die waren im Keller versteckt“, antwortete Mischa wahrheitsgemäß.
„Ich habe aber gar keine Eier im Keller versteckt!“ behauptete Sebastian erregt. „Ich weiß doch, dass Mischa nicht im Keller sucht, weil er dort Angst hat.“
„Er hat aber im Keller gesucht!“ konterte Bruhn überzeugt auf beiden Fersen wippend. Dann wandte er sich an Mischa. „Wo genau hast du die Eier denn gefunden?“
„In dem Schrank. Hinten, in dem kleinen Abstellraum. Ganz oben, unter der Wäsche.“
„Wie bist du denn da dran gekommen?“
„Geklettert?“
„So, geklettert.“ Bruhns sah Sebastian nachdenklich an. „Ich hätte in diesem Fall aber nicht so ein kompliziertes Versteck ausgesucht, dass mein Sohn klettern muss. Schließlich sollte er ja gerade diese Eier unbedingt finden!?“
„Ich auch nicht“, stimmte ihm Sebastian zu. „Und ich hab ja auch keine Eier im Keller versteckt.“
„Das stimmt“, mischte sich Helen ein. „Ich war ja dabei. Außerdem haben wir die Liste gemacht, damit wir alle Eier wiederfinden.“
„Die Liste! Stimmt.“
Helen stürmte aus dem Raum, die Treppe hinauf ins Obergeschoß, um die Liste zu holen.
„Ihre Frau ist kein brauchbarer Zeuge, sie könnte …“
„Hier! Keine Eier im Keller“, rief Helen völlig außer Atem und winkte mit einem Zettel.
„Das beweist rein gar nichts, Ihr Mann kann …“ Bruhns brach ab und betrachtete das Schoko-Ei eingehender. „Das ist über das Verfallsdatum. Widerlich. Uups, sogar über 8 Jahre. Das ist ja wohl Rekord. Ich würde sie zurückbringen, wenn ich Sie … Na gut, aber daran wird Ihre Mutter ja wohl nicht gestorben sein. Ich bin sicher, wir finden in dem Likör …“
„Acht Jahre!“ rief Sebastian. „Acht Jahre! Dann sind das die Eier …“
„Die Eier, mit denen Sie auch schon Ihren Vater …“, es fiel Bruhns wie Schuppen von den Augen.
„Wieso denn ich? Denken Sie doch mal vernünftig!“ schnauzte Sebastian den Kommissar an. „Sie hat ihn umgebracht. Also doch. Sie hat ihn einfach umgebracht.“
„Wen?“
„Meinen Vater. Sie hat die Eier präpariert und hinterher im Keller versteckt. Sie erinnern sich doch noch, dass sie gleich darauf diesen Schlaganfall hatte. Dann hat sie wohl vergessen, wo die Eier waren. Oder hat einfach vergessen, sie endgültig zu beseitigen. So muss es gewesen sein.“
„Ist denkbar“, brummte Bruhns und gab sich alle Mühe, Sebastians Gedanken zu folgen. „Und Mischa hat sie dann zufällig wiedergefunden, und weil er sie nicht mochte, wieder ihrer Mutter gegeben. Da kommt die Tatwaffe zurück an den Tatort, wie ein Bumerang, und schlägt dann erneut zu. – Damit hätte sich der Fall dann sozusagen von selbst erledigt“, verkündete Bruhns fast fröhlich.
„Also doch eine Art von Selbstmord!“
„Unfreiwillig, versteht sich.“ Bruhns war ernsthaft geneigt, diese Theorie zu überprüfen. Sie schien ihm recht plausibel. Aber das konnte natürlich nur das Labor klären, da war sich Bruhns sicher. Wenn Sebastian schuldig war, würden sie schon einen Beweis finden. Wenn man nur endlich die Tatwaffe gefunden hatte. Von jetzt an würde alles seinen geregelten Weg gehen. Für Bruhns war der Fall abgeschlossen. So oder so.
Die Rückkehr der Todeseier (78) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 1995. Alle Rechte vorbehalten.