Lebensversichert?

Kurzkrimi

„Ich werde dir keinen Anlass liefern, mich fertig zu machen“, stellte Carola über den Esstisch hinweg klar. „Ich weiß genau, was du vorhast.“

„Überhaupt nichts habe ich vor. Ich will nur in Ruhe frühstücken.“

„Ach, und warum hast du dann dieses alte Tischbein in der Hand?“

„Wenn du dieses Messer weglegst, brauch ich auch kein Tischbein.“

„Wenn ich das Messer weglege, bin ich dir ausgeliefert.“

„Geht mir genauso. Wer sagt, dass du dann nicht einfach über mich herfällst?“

„Ich? Über dich herfallen? Sei nicht albern! Du wartest doch nur darauf, dass ich unbewaffnet bin, dann …“

„Ich bitte dich Carola, warum sollte ich dir etwas tun?“

„Und ich? Warum sollte ich dir etwas tun?“

„Weil du die Lebensversicherung kassieren willst, meine Liebe.“

„Ich will die Lebensversicherung? Das ist doch wohl ’nen Witz. Du hast doch die Kredite unterschrieben. Du brauchst doch das Geld. Als wenn mir etwas an dem Geld liegen würde!“

„Du haftest für meine Schulden genauso, wie ich selbst. Das Geld könnten wir beide gebrauchen.“

„Aber nur einer von uns kann das erleben.“

„Wenn du meinst, bitte! Ich hänge jedenfalls am Leben. Außerdem zahlt die Versicherung auch gar nicht, wenn du mich umbringst.“

„Bei Notwehr schon. Und es ist doch offensichtlich, dass du schon in der Absicht zum Frühstück heruntergekommen bist, mich zu töten. Nicht wahr? Schließlich hast du diesen Knüppel da mitgebracht. Erschlagen wolltest du mich, du …! Wenn das mal nicht schon reicht!“

„Und das Messer? Was ist mit dem Messer? So ein großes Fleischmesser! Zum Brotschneiden womöglich? Ha! Da sind deine Fingerabdrücke drauf. Damit könntest du ja auf mich losgegangen sein, nicht wahr?“

„Unsinn mein Lieber, da müssten schon Kampfspuren zu sehen sein. Eine Verletzung wäre das Minimum.“

„Na, die kann ich mir ja hinterher selbst zufügen.“

„Genau das wird die Polizei auch denken. Die finden was! Nein, nein, mein Lieber, ohne einen Zeugen kommst du damit nicht durch. Niemals!“

„Das gilt auch für dich, ohne Zeugen läuft nichts.“

„Einer Frau werden sie eher glauben, dass …“

„Dann komm doch her und versuch dein Glück. Ich bin bereit. Du wirst schon sehen.“

Carola schwieg. Minutenlang saßen sie sich gegenüber und lauerten darauf, dass der andere sich bewegte, etwas tat, was einen Anlass bot, sich seines Gegenübers in Notwehr zu entledigen. Doch keiner wollte den ersten Schritt tun. Mitten in diese todbringende Stille hinein schrillte die Türklingel. Carola und Bernd hoben gleichzeitig die Köpfe und sahen sich fragend an. Wer konnte das sein?

„Ich geh aufmachen“, sagte Carola, als es zum zweiten Mal klingelte und Bernd sich immer noch nicht rührte.

„Tu das“, forderte Bernd sie mit einem Kopfnicken auf. Und als sie sich zur Tür bewegte, stand er auf und folgte ihr, immer mit dem Tischbein in der Hand. „Nur, falls das eine Falle sein sollte!“

„Was denn für eine Falle?“

„Ich weiß nicht“, sagte Bernd misstrauisch grinsend. „Ein Liebhaber vielleicht, der mich hinterrücks erledigen soll?“

„Schwachsinn“, antwortete Carola und öffnete die Tür.

„Moin, moin, ein Einschreiben für Sie“, trötete der Postbote Carola fröhlich entgegen.

„Wohl ’ne Rechnung nicht bezahlt“, scherzte der Beamte, verstummte aber sofort, als er sah, dass Carola das überhaupt nicht witzig fand. „Hier unterschreiben bitte.“

Mechanisch nahm Carola den Stift. Dann stockte sie. Das war ein Zeuge. Ganz unfraglich ein neutraler Zeuge. Sie warf einen schnellen und hinterlistigen Blick zu Bernd hinüber.

„Helfen Sie mir“, rief sie, statt zu unterschreiben. Und dann noch einmal eindringlich ins hysterische gleitend.

„Helfen Sie mir! Dieser Wahnsinnige versucht mich umzubringen.“ Carola deutete in das Halbdunkel des Flurs.

Der Postbote sah an ihr vorbei in das Innere des Hauses. Dann sah er Bernd mit dem Tischbein in der Hand, der überrascht und verlegen grinste.

„Was haben Sie da in der Hand?“ fragte der Postbote alarmiert.

›Jetzt hat sie ihren Zeugen!‹ schoss es Bernd in den Kopf. Wenn sie die Tür jetzt gleich schließen würde, ginge sie mit dem Messer auf ihn los und der Postbote hatte gesehen, dass er dieses dusselige Tischbein in der Hand hielt. Er machte zwei schnelle Schritte nach vorn, um den Postboten auf das Messer hinzuweisen, das Carola noch immer in der Hand hielt. Nein, sie hatte es hinter ihrem Rücken verschwinden lassen. Er konnte es von da draußen ja gar nicht sehen. Bernd stürmte vor, um Carola das Messer wegzunehmen.

„Helfen Sie mir!“ schrie Carola wieder, als sie sah, dass Bewegung in Bernd kam.

Der Postbote sprang an ihr vorbei in den Flur, ergriff Bernds erhobenen Arm und fing an mit ihm zu ringen.

„Dieser Wahnsinnige“, keuchte Carola und ließ ihr Messer durch die Luft sausen, um dem Postboten beizustehen. Der hatte sich jedoch bei Rangelei so ungünstig in Stellung gebracht, dass Carolas Messer ihm genau ins Schulterblatt drang. Ungläubig erstarrend drehte er sich um. Carola schlug die Hände vor den Mund, um nicht zu schreien. In diesem Moment wurde das Leben des Postboten von einem heftigen Schlag mit dem Stuhlbein auf den Hinterkopf beendet.

Carola und Bernd waren fassungslos.

„Bist du verrückt? Das war mein Zeuge!“ schnauzte Carola ihren Mann an.

„Dein Zeuge, das war genauso gut mein Zeuge.“

„Gott, du hast ihn umgebracht!“

„Ich? Dein Messer steckt doch in seinem Rücken. Wie willst du das denn der Polizei erklären?“

„Und der Schlag auf den Kopf? Das war wohl auch ich.“

„Hör zu. Lass uns vernünftig sein. Der Mann ist tot. Und wir sind beide schuld.“

„Und er hatte noch nicht mal ’ne Lebensversicherung.“

„Jedenfalls nicht zu unseren Gunsten.“

„Ein völlig sinnloser Tod.“

„Ja, schon, aber wir müssen etwas tun, sonst gehen wir beide ins Gefängnis.“

„Da können sie uns aber nicht pfänden!“

„Lass das jetzt! – Wie kommen wir da wieder raus?“

„Ich hab’s!“ rief Carola. „Wir täuschen einen Überfall vor. Räumen seine Posttasche leer und legen ihn in eine Seitenstraße. Passiert doch, dass so einer wegen ein paar Wertsachen überfallen wird, oder?“

Bernd dachte angestrengt nach. „Nicht genial, aber mir fällt auch nichts Besseres ein.“

„Also gut!“ Carola kniete sich nieder und begann die Tasche des Postboten auszuräumen. „Vielleicht finden wir ja sogar ein paar Briefe mit Geld!“

„Carola …“ Bernd wollte seine Frau eigentlich zurechtweisen, aber ein hysterischer Schrei, an der immer noch offenen Wohnungstür unterbrach ihn. Carola hatte in der Aufregung vergessen die Tür schließen. Frau Baumgarten, eine Nachbarin, hatte eine Falschzustellung in ihrem Briefkasten entdeckt und wollte sie dem Postboten gleich wieder mitgeben. Sein Fahrrad stand ja noch bei den Gärtners im Vorgarten.

„Ich wusste ja, dass die Schulden hatten. Aber dass es so schlimm um sie stand? Den Postboten in die Wohnung locken und ihn erschlagen, um ein paar Wertbriefe zu stehlen! Also wirklich, das hätte ich von den beiden nicht gedacht. Waren doch eigentlich ganz solide Leute, dachte ich jedenfalls“, sagte Frau Baumgarten später vor Gericht aus und brachte Bernd und Carola damit für 30 Jahre hinter Gitter.



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