Paulas letzter Muttertag

„Paula! Bitte nimm dieses Ding ab“, sagte Manfred, als er seine Frau vor dem Schlafzimmerspiegel posieren sah.

„Was meinst du?“ fragte Paula mit einem Blick, der in ferne Sphären gerichtet schien.

Es wunderte Manfred beinahe, dass sie wenigstens zugab, seine Aufforderung gehört zu haben. Normalerweise war sie in diesem Stadium längst jenseits aller Ansprechbarkeit.

„Das Kreuz! Paula! Ich meine das Kreuz da um deinen Hals“, sagte Manfred und rang dabei mit Mühe um seine Selbstkontrolle.

„Das Kreuz? – Ich soll das Kreuz abnehmen?“

„Ja, Paula. Ich bitte dich, nimm es ab!“

„Aber es ist doch Muttertag“, sagte Paula mit säuselnder Stimme, die man normalerweise auf übermäßigen Alkohol- und Tablettengebrauch zurückgeführt hätte.
„Paula, bitte“, beharrte Manfred sanft, aber Paula wiegte sich nur, mit der Hand über das Stück Blech streichelnd, vor dem Spiegel hin und her und summte leise eine Melodie. Jetzt war es doch soweit. Sie hörte ihn nicht mehr oder wollte es einfach nicht. Manfred schüttelte resigniert den Kopf und verließ das Zimmer.

In der Küche öffnete er den Kühlschrank und begann den Frühstückstisch vorzubereiten. Jedes Jahr das gleiche Spiel. Einen Tag im Jahr weigerte sich Manfreds Frau, auch nur einen Handschlag im Haushalt zu machen. Am Muttertag war dies alles traditionell Sache der Kinder. Manfred platzierte den Frühlingsstrauß in einer kleinen Vase mitten auf dem Tisch.

Eine viertel Stunde später kam auch Paula hinunter in die Küche. Sie hatte sich nochmals geschminkt und das gesamte Farbspektrum eines Wasserfarbkastens leuchtete zwischen Stirn und Kinn. Jetzt, im helleren Licht der Küche bemerkte Manfred, dass Paulas Haare einen silbrigen Lilastich hatten. Das war ganz sicher nicht mehr die Frau, die Manfred vor dreißig Jahren geheiratet hatte. Dabei dachte er nicht daran, dass sie inzwischen 116 Kilo auf die Waage brachte, ihre Taille auf Hüftumfang angeschwollen war oder sich ihre Beine, wie ein verdurstender Schwamm, mit Wasser vollgesogen hatten. Das alles war ihm egal. Schließlich sagte sie auch nichts zu den Rettungsringen, die seinen eigenen Oberkörper stabilisierten. Es war vielmehr ihre Einstellung. Es schien ihr nicht zu genügen, dass sie älter wurde, sie musste sich auch noch so kleiden. Altern ist eine Frage des Kopfes, das wurde Manfred immer klarer.

„Haben die Kinder den Tisch nicht herrlich gedeckt?“ sagte Paula und setzte sich an ihren Platz. Demonstrativ legte sie die Hände in den Schoß. „Sogar an Blumen haben sie gedacht.“

Manfred goss schweigend Kaffee ein. Dann setzte auch er sich hin.

„Wo sind sie, die Kinder?“

Paula wollte wie immer mit dem Essen warten, bis die Kinder kamen.

„Sie lassen sich entschuldigen. Sie können nicht kommen“, erklärte Manfred.

„Aber Hans, … der wird doch sicher kommen?“

Manfred überlegte, ob Hans dieses Jahr kommen würde oder nicht. Er entschied sich, dass Hans nicht käme.

„Hans kommt doch jedes Jahr. Ich kann das nicht glauben. Hans kommt bestimmt.“

„Er wird nicht kommen. Niemand wird kommen“, wiederholte Manfred eindringlich.

„Lass uns noch ein wenig warten. Ich bin sicher, dass Hans sich nur verspätet hat.“

„Hans kommt nicht, basta.“

Manfred sah, dass Paula wieder nervös an dem Mutterverdienstkreuz herumfingerte. Natürlich hatte sie es nicht abgenommen.

„Ich fange jetzt jedenfalls an zu essen, wenn es dir nichts ausmacht“, sagte Manfred und schlug mit dem Löffel energisch auf sein Ei ein.

„Das kannst du nicht tun!“

„Was kann ich nicht tun?“ hakte Manfred sofort nach und witterte eine Chance, endlich einiges klarstellen zu können.

„Mit dem Essen anfangen, bevor Hans gekommen ist.“

Manfred ließ den Eierlöffel resigniert sinken.

„Aber ich habe dir doch gesagt, dass Hans nicht kommen wird.“

„Dann wird das aber keiner schöner Muttertag. – So ohne Hans. – Das sieht ihm auch gar nicht ähnlich. Sonst ist er doch auch immer gekommen.“

‘Das ist wahr’, dachte Manfred. ‘Das wird vielleicht der schrecklichste Muttertag, den du je erlebt hast. So ganz ohne Hans.’ Manfred grinste breit bei diesem Gedanken und hob vorsichtig die Schädeldecke des Eis ab. Man konnte dem Ei direkt ins dampfende Hirn sehen. ‘Wenn es bei Paula nur genauso einfach ginge!’

Manfred sah seine Frau an, während er das Ei vom Löffel lutschte. Sie war den Tränen nahe. Plötzlich hatte er die Vision, er könnte mit einer Schweißerbrille und einem Fuchsschwanz bewaffnet ihre Schädeldecke öffnen. Er sah die vielen verkorksten, glibberigen Windungen, deren Zusammenspiel niemand auf der Welt so ganz durchschaute. Und dann ging er daran, mit einem Lötkolben und Spannungsmesser einige ihrer Schaltkreise wieder richtig zu verdrahten.

„Hans muss kommen!“ rief Paula plötzlich energisch und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass das Geschirr schepperte.

„Nein!“ sagte Manfred und aß seelenruhig sein Ei weiter. Dieses Jahr würde er es durchziehen.

„Warum denn nicht?“ jammerte Paula, die offensichtlich kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand.

„Weil er tot ist!“ Manfred war erleichtert, es endlich einmal ausgesprochen zu haben. Dieses Jahr würde er sie nicht Mutter nennen. Würde ihr nicht erzählen, wie er der Hölle des Krieges entkommen war. Wie er sich als Schieber durchgeschlagen hatte. Von dem Geld in den Fünfzigern sein kleines Unternehmen aufgebaut hatte. Wie wohlhabend er heute war. Und so weiter und so weiter. Er würde sich keine neuen Geschichten um Hans ausspinnen. Er war Chemiker und kein Geschichtenerzähler. Wieso hatte er sich überhaupt jemals auf diesen Unsinn eingelassen?

„Hans ist tot?“

„Jawohl. Tot!“ Manfred drückte die Taste am Toaster herunter.

„Ein Unfall? Mit dem Auto? Das kann nicht sein!“

„Ist auch nicht so gewesen. Er ist tot. Seit vierzig Jahren tot. In Stalingrad gefallen, wie all die anderen auch. – Tot, – kapier es endlich. Einfach tot!“ Es kostete Manfred einige Mühe ruhig zu bleiben.

Paula lachte hysterisch auf. Manfred nahm einen Schluck Kaffee und wartete geduldig, bis sich ihr Gelächter legte.

„Das gibt’s doch gar nicht! Er ist doch all die Jahre zum Muttertag vorbeigekommen. Dann hätte ich ja wohl mit einem Geist gefrühstückt. Du willst mir nur einen Schreck einjagen, gib’s zu!“

„Hör endlich auf damit, Paula. Ich war es, ich habe all die Jahre den Hans zum besten gegeben und es war ein gottverdammter Fehler, sich auf dieses Spiel einzulassen. Hans ist tot, basta.“

Paula schaute ihn viel zu kurz irritiert an. Dann hatte sie sich gleich wieder gefangen, grinste debil und sagte: „So ein Unsinn. Ich kann doch meinen Sohn und meinem Mann auseinander halten. Ich bin doch nicht verrückt?“

Das war die Frage, auf die man nie mit der Wahrheit kontern durfte. Manfred tat es trotzdem.

„Hans ist nicht dein Sohn, Paula. Er war es auch nie. Und wird es auch nie sein. Hans war dein Bruder und er ist in Stalingrad gefallen, wie all deine anderen Brüder auch.“
Paula zuckte heftig zurück. Manfred war sich nicht sicher, ob wegen der herausspringenden Toastbrotscheiben oder wegen der Erkenntnis, dass er Recht hatte. Er nutzte die einsetzende Ruhe, um sein Herzrasen zu kontrollieren und sich mit leichtem Tremor einen Toast zu angeln. Heute Morgen beim Aufstehen war er sich noch nicht sicher gewesen, doch jetzt war es klar, er würde es durchziehen. Und wenn einer von ihnen daran zerbrechen würde.

„Ich verstehe nicht, was du mir da sagen willst?“ setzte Paula zur nächsten Attacke an. Sie würde sich winden und jammern, wie ein Hund, dessen Hinterteil in einer Bärenfalle steckte.

„Ich versuche dir zu erklären, dass es Blödsinn ist, dieses Muttertagsbremborium. Du hast keine Kinder. Du hattest nie Kinder und du wirst nie welche haben.“ Der Toast krachte unter der hartgefrorenen Butter wie Knochen in einer Mühle.

„Ach ja! Ach ja!“ kreischte Paula und schlug diesmal mit den Fäusten auf den Tisch, dass der Teller fünf Zentimeter abhob. „Und wofür habe ich dann das hier gekriegt?“
„Das ist nicht dein Mutterkreuz. Es gehörte deiner Mutter“, erklärte Manfred sachlich und biß demonstrativ gelassen in seinen Marmeladentoast.

„Das stimmt nicht. Das hier …“ Paula zerrte an dem Mutterkreuz an ihrem Hals. „… bekommt man, wenn man dem Führer und dem Reich vier oder mehr Kinder geschenkt hat!“

Manfred war geneigt, sich an dem Wort ‘geschenkt’ zu verbeißen.

„Paula, bei Kriegsende warst du gerade 14 Jahre alt. Verdammt noch mal, wenn du mir nicht glaubst, dann schau in deinen Personalausweis und in die Geschichtsbücher!“
Manfred war sich sicher, dass sie all das wusste. Er war sich auch sicher, dass sie dieses Muttertags-Spiel ganz einfach beenden konnte, wenn sie nur wollte. Vielleicht ging es, wenn man nicht mehr nachgab. Nicht mehr ihrer Illusion den Freiraum ließ und konsequent die Wahrheit aussprach.

Paula schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Sie stemmte sich mit beiden Händen auf den Tisch und schien zwischen Heulen und Schreien zu schwanken. Manfred hoffte, sie würde nicht schreien.

„Warum tust du das?“ fragte sie ruhig, aber mit einem unnatürlichen Vibrieren in der Stimme.

„Warum tue ich was?“

„Du willst mich verrückt machen. Du versuchst mir einzureden, ich hätte keine Kinder und ich hätte kein Mutterkreuz erhalten. Du versuchst mich als krank hinzustellen. Was soll das?“

Was Manfred am meisten schockierte, war der Tonfall, in dem sie diesen Satz gesprochen hatte. Es klang so normal. Der Satz für sich genommen und wie er ausgesprochen wurde, hätte jeden, absolut jeden dazu verführt, ihr die Empörung abzukaufen und diesen Vorwurf in irgendeiner Form für berechtigt zu halten.

„Aber Paula. Jetzt hör doch bitte auf. Eines Tages hast du angefangen am Muttertag so zu tun, als wenn ich Hans wäre und dein Sohn. Ich hab das all die Jahre doch nur mitgemacht, weil ich dachte, es schadet niemandem und es bringt dir was. Irgendwann muss damit aber Schluss sein. Ich kann nicht jeden Muttertag diese Hans-Nummer abziehen, das musst du doch einsehen.“

„Warum sollte ich so etwas tun?“

„Was? Das einsehen?“

„Warum sollte ich wohl so tun, als ob du mein Sohn wärst? Das ist doch eine völlig verrückte Idee. Warum tust du so, als ob Hans nicht existiert? Du hast ihn immer so behandelt, als ob er hier nicht hingehören würde. Vielleicht ist das ja der Grund, weshalb er nicht kommt? Du hast ihn vergrault mit deinen ewigen …“

„Paula!“ Auf Manfreds Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen. Wieso fühlte er sich auf einmal in die Ecke gedrängt? Warum benutzte sie fortwährend das Wort ‘verrückt’? Die Sache geriet außer Kontrolle. Nicht er war das Problem, sondern sie. Wenn sie jemand so reden hören würde, müsste er ja denken, er, Manfred, hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank.

„Paula?“ Manfred versuchte wieder ruhig zu wirken. „Erinnerst du dich denn nicht mehr an deine Mutter? 43? Als sie sie abgeholt haben, nach ihrem epileptischen Anfall?“
„Was redest du da? Meine Mutter war völlig gesund?“

„Bis auf diesen kleinen Defekt, vielleicht ein Tumor, oder es waren einfach die Nerven, als sie hörte, dass alle ihre Söhne gefallen waren. Was den Anfall auslöste hat man doch damals überhaupt nicht untersucht. Sie haben deine Mutter abgeholt und in die Psychiatrie eingeliefert. Das musst du doch noch wissen? Du warst schließlich dabei.“
Paula ließ sich wortlos auf den Stuhl sinken.

„Und dieses …“ Manfred deutet auf Paulas Hals. „Dieses verdammte Kreuz wollten sie ihr wieder abnehmen, weil sie als erbkrank galt. Aber sie hat es versteckt und später vor der Operation dir in die Hand gedrückt. Daher hast du das verdammte Kreuz!“

„Was für eine Operation? Ich bin noch nie im Leben operiert worden“, fragte Paula müde. Ihre Gegenwehr schien zu erlahmen.

„Doch, sie haben dich operiert. Mit dreizehn haben sie dich sterilisiert, weil du womöglich Erbschäden unters Volk bringen könntest. Deswegen hast du auch keine Kinder. Du kannst gar keine Kinder haben. Verstehst du das jetzt endlich?“

Paula lächelt und sah an Manfred vorbei in eine ferne Zeit oder an einen fernen Punkt. „Das ist doch lächerlich. Ich habe dem Führer und dem Reich vier oder mehr Kinder geschenkt. Dafür habe ich dieses Kreuz bekommen. Und am Muttertag kommen alle Kinder heim. – Um die Mutter zu ehren!“

„Aber nicht 43! Da kam keiner mehr heim.“

Manfred saß still da und wartete ab. Vielleicht hörte dieses Muttertagstheater jetzt endlich auf. Vielleicht hatte sie endlich begriffen, dass sie der Wahrheit ins Auge sehen musste.

„Paula?“ versuchte Manfred vorsichtig, nach einigen Minuten Stille, wieder Kontakt zu seiner Frau aufzunehmen, aber sie war nicht mehr da. Wahrscheinlich brauchte sie noch einige Zeit. Die wollte Manfred ihr gerne zum Nachdenken geben. Es musste endlich wieder Normalität einkehren. Manfred sah, dass er immer noch einen halben Toast in der Hand hielt. Zaghaft und ohne rechten Appetit biss er ein Stück ab. Das Geräusch schien Paula in die Wirklichkeit zurückzuholen.

„Willst du mit dem Frühstück nicht warten, bis Hans endlich kommt.“

Die letzten Reste Speichel, die Manfred noch zu Verfügung hatte, verdrückten sich sekundenschnell in die Weißbrotkrumen. Sie trockneten seinen Mund völlig aus. Sein Kinn klappte haltlos herunter und verursachte ein schmatzendes Geräusch, weil sein letzter Bissen am Gaumen kleben blieb. Als er in die verwässerten und irren Augen seiner Frau sah, wusste er, dass das alles nichts gebracht hatte.

„Paula, du hast keine Kinder und kannst auch keine kriegen“, quetschte er zäh durch den Weizenbrei.

„Warum nicht?“ fragte sie fröhlich wie ein kleines Mädchen, das wissen wollte, weshalb sie ihren Vater nicht heiraten konnte.

„Du bist operiert worden und du weißt das!“

„Unsinn. Ich bin noch nie in meinem Leben operiert worden!“

Manfred warf den Rest Toastbrot auf den Teller. Dann sprang er von seinem Stuhl auf, machte die zwei Schritte zu Paula hinüber, zog sie von ihrem Stuhl hoch, was ihm erstaunlich leicht fiel, und schüttelte sie heftig an ihren Schultern.

„Du bist sterilisiert, hörst du!“ schrie er sie an.

Paula lächelte ihn nur an. Manfred ließ ihre Schultern los. Mit einer Hand riss er ihre Bluse auf, dass die Knöpfe quer durch die ganze Küche flogen.
„Da! Du bist operiert worden.“ Er zeigte auf eine Narbe, die aussah, als wäre sie von einem Brotmesser verursacht worden.

„Schau dir die Narbe an. Du bist sterilisiert!“, schrie er hilflos gegen Paulas fortwährendes debiles Grinsen an.

Dagegen kam er einfach nicht an. Manfred sah das Mutterkreuz an ihrem Kragen baumeln. Er riß es ab und hielt es ihr vor die Augen.

„Damit ist jetzt Schluss! Endgültig. Es ist nicht dein Kreuz und du musst es auch nicht tragen.“

Manfred drehte sich zum Mülleimer unter der Spüle und wollte das Kreuz vor ihren Augen in den Abfall werfen. Er konnte nicht sehen, dass Paula hinter seinem Rücken endlich mit dem Lächeln aufgehört hatte. Den Mülleimer hatte Manfred noch nicht geöffnet, als seine Hand, in der sich das Kreuz befand, von hinten festgehalten wurde.
„Gib es her!“ befahl ihm Paula.

„Paula, siehst du denn nicht, was dieses verdammte Kreuz mit uns macht?“

„Gib es her!“ sagte Paula noch einmal und es klang eine ganze Oktave bedrohlicher als zuvor.

„Das kommt jetzt in den Müll.“ Manfred wollte seine Hand über den Rand des Behälters schieben. Aber Paula hatte einen ungemein kräftigen Griff.

„Paula!“ schrie Manfred so laut wie er konnte, um sie ein wenig einzuschüchtern.

Er hatte einfach nicht damit gerechnet, deshalb traf ihn die Ohrfeige mit voller Wucht. Es gab eine winzige Explosion in seinem Ohr, so, wie ein Lautsprecher zerfetzte, wenn er überlastet wurde. Kurze Zeit herrschte vollständige Ruhe, dann setzte ein Nerv tötendes Summen ein. Manfred sah Paula überrascht an. Irgendetwas ging in ihrem Gesicht vor. Er konnte nicht sagen was. Paula ließ ihm auch nicht die Zeit, darüber unnötig lange nachzudenken. Sie hielt noch seinen Arm fest und schlug ihm mit der linken Faust dreimal kurz und trocken ins Gesicht.

Manfred ließ das Kreuz fallen und hob die Arme zum Schutz hoch. Gleich trafen ihn Schläge in den Unterleib. Ihm blieb die Luft weg. Gekrümmt sank er zu Boden und landete dicht neben dem Mutterkreuz. Das konnte nicht passiert sein. Das konnte seine Frau nicht getan haben. Er versuchte durchzuatmen. Sein Mund war wieder voller Flüssigkeit. Aber sie war deutlich dicker als Wasser.

Er konnte nur noch ein Auge schmerzfrei öffnen. Gleich vor ihm lag das Kreuz und dahinter konnte er nur Paulas aufgeschwemmte Waden sehen. ‘Dieses Jahr ziehe ich es durch’, schoss es ihm in Kopf, ‘egal was sie auch tut.’ Seine Hand bewegte sich zwischen zwei flachen Atemstößen Richtung Mutterkreuz. Er konnte die Wade sogar noch auf sich zukommen sehen, bevor ihm, die runde Spitze ihrer braunen Pumps mit voller Wucht in die Rippen traf. Ein Gutes hatte die Sache, er spürte es kaum noch.

Jetzt dachte er nur noch daran, an dieses blöde Kreuz zu kommen und es zu vernichten. Er rollte sich herum und sah, wie Paula sich gebückt hatte und sich mit einer Hand an dem Küchenbüffet abstütze, weil ihre absurd großen Brüste, die seit Jahrzehnten ungenutzt an ihr herunterhingen, sie sonst aus dem Gleichgewicht gebracht hätten. Ihr geliebtes Kreuz hielt sie schon wieder in der Hand hielt. Seine Arme schossen vor, erwischten aber nur ihren Rocksaum und krallten sich daran fest. Stoff riss. Sie versuchte nach hinten auszutreten, ohne dabei umzufallen. Manfred griff erneut zu und erwischte mit beiden Händen ihren Hüfthalter. Dann versucht er sie umzureißen. Plötzlich ließ sie los und landete mit ihrem Hintern auf Manfreds Kopf. Fast wäre ihm dabei der Schädel geplatzt. Seine Hände hatten sich irgendwie in ihrem Stumpfhaltern verheddert. Wahrscheinlich musste er nun ersticken. Paula gelang es aber sich über die Seite zu rollen und dabei aufzurichten. Jetzt thronte sie förmlich auf ihm.

„So?! Ich habe also das Kreuz nicht verdient, ja?“ Ihre Stimme war heiser und hell vibrierend. Manfred wollte nicken. Ihm blieb aber nicht die Zeit dafür. In diesem Moment schlug sie erneut zu. Die folgenden Schläge spürte er so gut wie gar nicht mehr. Er spürte eigentlich überhaupt nichts mehr. Es wurde zu dunkel, um etwas zu sehen, zu leise um etwas zu hören. Er entspannte sich völlig. Was sollte ihm jetzt noch passieren?

Es war ein freundliches, junges Gesicht, das Manfred sah, als er aufwachte.

„Da sind wir ja wieder. Gut geschlafen?“, fragte die Schwester.

Manfred hatte Schwierigkeiten etwas zu sagen.

„Sie können ruhig sprechen. An die Drähte gewöhnen sie sich schnell. Warten Sie einen Moment, ich rufe den Arzt.“

Manfred schloss dankbar die Augen. Er brauchte jetzt ein wenig Ruhe.

Kurz darauf tauchte der Arzt an seinem Bett auf.

„Wer sagt’s denn. Wird ja alles wieder. Wie fühlen Sie sich?“

„Gut“, log Manfred.

„Na ja. Kann ich mir kaum vorstellen. Hat Sie ziemlich zugerichtet – Ihre Frau. Aber wir haben sie ja wieder hingekriegt, wie man sieht.“

‘Wo ist meine Frau’, wollte Manfred fragen. Aber es kam nur das Wort „Frau?“ aus seiner Kehle.

„Ihre Frau? – Kann er die Wahrheit schon vertragen?“

Die Frage war nicht an Manfred gerichtet. Ein zweiter Arzt beugte sich über sein Bett und nickte nach kurzer Zeit stumm.

„Tja, um ehrlich zu sein. Ich habe so was noch nicht erlebt. Ganz ungewöhnlich. Die meisten Suizide sind …“

„Suzd“, hörte Manfred sich nuscheln.

„Ganz recht, Suizid. Ihre Frau hat sich auf ganz ungewöhnliche Art das Leben genommen. Jedenfalls für europäische Verhältnisse. Hat sich selbst den Bauch aufgeschlitzt. Wollte sich wohl selbst therapieren.“ Der Arzt lachte über einen Scherz, den Manfred wohl nicht mitgekriegt hatte.

„Leider hat sie, wie nennen die das, – Kamikaze? – Ach ja Kamasutra, – danke Herr Kollege. – Jedenfalls hat sie nicht das Herz getroffen. Hat wohl nicht mal dahin gezielt. Ist einfach verblutet. Die Aorta abdominalis angeritzt und dann verblutet. Muss knapp ‘ne Stunde gedauert haben. Unvorstellbar, nicht wahr? War jedenfalls schon tot, als sie gefunden wurde. Aber sie konnten wir ja wenigstens retten. Häusliche Auseinandersetzungen kann man ja wohl auch friedlich regeln. Na ja, das ist ihre Sache.“

Der Arzt stand auf und tätschelte mitleidig Manfreds Arm.

„Ach ja, fast hätte ich’s vergessen. Bei der Obduktion haben wir das hier gefunden. Ist schon eigenwillig, was manche Leute in ihrer Bauchhöhle mit sich rumtragen.“ Der Arzt lachte wieder über seinen Witz und drückte Manfred etwas in die Hand.

Manfred musste es nicht ansehen, um zu wissen was es war. Er fühlte das Mutterkreuz in seiner Faust. Am liebsten hätte er es einfach fallen lassen, aber es gelang ihm nicht, es loszulassen.

Paulas letzter Muttertag (50) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 1997. Alle Rechte vorbehalten.